Armaturenbrett eines Zuges mit einigen Anzeigen und Warnlämpchen sowie diversen Knöpfen und einem Regler.
Einige Messgrößen, ergänzt um wichtige Warnleuchten, so könnte das Indikatorentableau für die neue Wohlstandsmessung aussehen. (Foto: Wellphoto/​Shutterstock)

Dieses Jahrzehnt wird – auch nach dem Ende der Corona-Pandemie – unweigerlich eine Phase der raschen und unaufhörlichen Veränderungen sein. Denn Deutschland steht vor drei umfassenden Umbrüchen: dem demografischen Wandel, der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft sowie der Transformation zur Nachhaltigkeit.

Dabei erfordern die Digitalisierung und die ökologische Transformation Weichenstellungen, die nicht nur auf der nationalen, sondern auf der europäischen und globalen Ebene ansetzen.

In einer derart komplexen Lage wüsste man schon ganz gerne, wo man im Augenblick steht, welche Aspekte des gesellschaftlichen Wohlergehens sich defizitär entwickeln oder wo sich so erhebliche Risiken für die künftige Entwicklung auftürmen, dass zu ihrer Abwehr politische Maßnahmen ergriffen werden müssen. Es ist kaum vorstellbar, dass Wohlstand und Fortschritt ohne eine strukturierte statistische Berichterstattung eingeordnet werden können, die anerkannten Standards folgt.

Wer anhand detaillierter Kennzahlen wissen will, wohin die Reise in einer bestimmten Dimension des gesellschaftlichen Wohlstands geht, findet üblicherweise in der amtlichen Statistik eine ausführliche Antwort. Das Arsenal für eine differenzierte Einordnung ist also vorhanden, seine Nutzung blieb jedoch bislang weitgehend Fachleuten überlassen.

Im politischen Diskurs spielen nur wenige Kennzahlen eine herausgehobene Rolle, allen voran das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Wenngleich das BIP einige Schwächen hat, etwa bei der Erfassung von nicht auf Märkten gehandelten Aktivitäten, ist es ein bewährter und treffsicherer Indikator für die Wirtschaftsleistung einer Volkswirtschaft. Es macht jedoch keine Aussagen über den Verbrauch des Naturkapitals oder die Verteilung des Erwirtschafteten. Das BIP ist daher kein sonderlich gutes Maß für allumfassenden Wohlstand und Fortschritt, schon gar nicht in unserer Gesellschaft, die materieller Not weitgehend entkommen ist.

Es ist daher sinnvoll, die Messung des quantitativen Wachstums durch das BIP um Kennzahlen für den immateriellen Wohlstand und die Nachhaltigkeit zu ergänzen. Das BIP sollte jedoch die zentrale Orientierungsgröße einer Wirtschaftspolitik bleiben, die ökologische und soziale Aspekte ebenfalls in den Blick nimmt.

Fachlich kompetente Begutachtung als Schlüssel

Wissenschaft und Politik haben in den vergangenen Jahren schon intensiv daran gearbeitet, eine derartige ganzheitliche Wohlfahrtsberichterstattung zu etablieren. Dabei hat sich als beste Lösung die Zusammenstellung einzelner Indikatoren aus unterschiedlichen für den gesellschaftlichen Wohlstand relevanten Bereichen in einem Indikatorentableau herausgeschält.

Ein solches schlugen in Deutschland bereits der Sachverständigenrat für Wirtschaft im Jahr 2010 und eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages im Jahr 2013 vor. Dass solch ein Tableau nun fester Bestandteil des Jahreswirtschaftsberichts der Bundesregierung wird, ist ein echter Durchbruch.

Zwei Kernaspekte müssen jedoch dabei bedacht werden, wenn eine ganzheitliche Wohlfahrtsberichterstattung ihre Potenziale entfalten soll.

Porträtaufnahme von Christoph M. Schmidt.
Foto: Sven Lorenz/​RWI

Christoph M. Schmidt

ist Präsident des Wirtschafts­forschungs­instituts RWI in Essen und Professor für Wirtschafts­politik und angewandte Ökonometrie an der Ruhr-Universität Bochum. Von 2009 bis 2020 war er Mitglied des Sach­verständigen­rates zur Begutachtung der gesamt­wirtschaftlichen Entwicklung, ab 2013 als Vorsitzender.

Erstens gilt es, eine gute Balance zwischen Vielfalt und Verdaulichkeit herzustellen.

Zusammenfassende Einzelindikatoren, wie etwa der Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen, verrechnen unterschiedliche Lebensdimensionen allzu stark, um noch den Anspruch auf hinreichende Vielschichtigkeit der Berichterstattung zu erfüllen, und die Gewichtung der unterschiedlichen Dimensionen bleibt willkürlich.

Andererseits laufen zu umfassend gehaltene Tableaus Gefahr, dass die Informationsfülle als überwältigend empfunden wird und sich die Diskussion dann doch wieder auf einige wenige Indikatoren wie das BIP verengt. Die Enquete-Kommission hatte aus diesem Grund neben einer überschaubaren Zahl von Kernindikatoren ein Warnlampen-System vorgesehen. Dies lenkt die Aufmerksamkeit lediglich dann auf weitere Indikatoren, wenn in dem von ihnen erfassten Bereich besonders hohe Risiken erkennbar werden, etwa bei der Finanzmarktstabilität.

Zweitens muss die Entwicklung dieser Indikatoren sachkundig eingeordnet werden, es reicht nicht aus, sie abzudrucken.

Ob eine Entwicklung angesichts der Umstände, etwa der konjunkturellen Entwicklung, als erfreulich oder besorgniserregend einzuordnen ist, ergibt sich häufig nicht von selbst. Ebenso mag eine auf den ersten Blick erfreuliche nationale Entwicklung wenig bedeuten, wenn sich zugleich die globale Situation verschlechtert, insbesondere bei Fragen der ökologischen Nachhaltigkeit.

Daher gilt es, jetzt einen Prozess der Begutachtung der in einem ganzheitlichen Indikatorentableau erfassten Entwicklungen durch ein sachkundiges Gremium so zu etablieren, dass er regelmäßig und unabhängig durchgeführt wird und die Bundesregierung zu einer Stellungnahme verpflichtet.

Glücklicherweise ist dies bereits die Essenz des jährlichen Widerspiels von Jahresgutachten des Sachverständigenrates und Jahreswirtschaftsberichten der Bundesregierung. Sofern der Sachverständigenrat unabhängig und kritikfreudig bleibt, kann diese Erweiterung des wirtschaftspolitischen Diskurses um eine ganzheitliche Wohlstandsberichterstattung sehr fruchtbar sein.

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