Klimareporter°: Professor Loske, immer mehr Länder gehen wieder in den Lockdown, die Corona-Attacke ist anders nicht zu bewältigen. Ein Vorbote für das, was uns wegen der Klimakrise noch droht?
Reinhard Loske: Eine interessante Analogie. In der Vergangenheit ist auch bei akuten Umweltproblemen oder Ressourcenkrisen gelegentlich das Mittel des Lockdowns oder Shutdowns gewählt worden.
Im Dezember 2015 etwa hat China zur Smogbekämpfung Tausende von Fabriken geschlossen. In Westdeutschland hatten wir im Winter 1973 vier autofreie Sonntage wegen der Ölpreiskrise. Die konsequente Bekämpfung der Covid-19-Pandemie durch Lockdowns steht also durchaus in einer Tradition.
Die Klimapolitik tendiert dagegen eher zum Herausschieben notwendiger Entscheidungen: 2038 will man in Deutschland aus der Braunkohle ausgestiegen sein, 2050 die sogenannte Klimaneutralität erreicht haben.
So entsteht keinerlei Gefühl von Dringlichkeit, obwohl die Klimakrise wesentlich existenzbedrohender für die Menschheit ist als die gegenwärtige Pandemie.
Ist das nicht auch eine Chance? Viele denken um. Home-Office statt Stau, Joggen statt Jetten, mit Öko-Lebensmitteln kochen statt Dosenfraß ...
Ein Lockdown ist ja nichts Erstrebenswertes, sondern nur eine Notmaßnahme. Aber die Pandemie und der Lockdown haben vieles noch einmal rot unterstrichen, was wir längst gewusst haben oder mindestens wissen konnten.
Etwa, dass man nicht ungestraft immer tiefer in sensible Naturgebiete vordringen darf, dass die global verwobenen Lieferketten unsere Krisenanfälligkeit erhöhen, dass das Gemeinwesen funktionierende öffentliche Infrastrukturen braucht – und auch, dass Konsumismus, Hypermobilität und Wachstumsfixierung eher Fehlorientierungen darstellen.
In der Tendenz könnte der Schreck der Pandemie zu einer neuen Wertschätzung für Elementares beitragen, für den Nahraum, die Ernährungsqualität, die Geselligkeit, die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung.
Was muss denn passieren, damit Klima- und Naturschutz überhaupt noch eine Chance haben?
Wir wissen ziemlich genau, was wir in den Bereichen Energie, Industrie, Mobilität, Wohnen, Naturschutz, Land-, Forst-, Wasser- und Kreislaufwirtschaft tun müssen. Woran es oft hapert, ist der politische Wille, die notwendigen Rahmenbedingungen auch gegen manifeste Interessen durchzusetzen.
Reinhard Loske
ist Präsident der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Bernkastel-Kues. Dort lehrt der Ökonom und Politikwissenschaftler auch Nachhaltigkeit. 1995 war er Leiter der Forschungsgruppe "Zukunftsfähiges Deutschland" am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, danach Grünen-Bundestagsabgeordneter und Umweltsenator in Bremen.
Viel zu oft herrscht in der Klimapolitik noch die Grundhaltung vor, wir können den Menschen die Wahrheit leider nicht zumuten. Aber das ist falsch.
Das gegenwärtige Pandemie-Management zeigt doch ziemlich deutlich, dass Notwendiges Unterstützung findet, wenn es nachvollziehbar ist und plausibel kommuniziert wird.
Was wir jetzt brauchen, ist also vor allem klimapolitischer Mut. Der muss auch die Brücke zur Gerechtigkeitsdimension schlagen: zur Teilhabe-Gerechtigkeit, zur Generationengerechtigkeit, zur Nord-Süd-Gerechtigkeit.
Sie waren vor 25 Jahren Projektleiter der Studie "Zukunftsfähiges Deutschland" des Wuppertal Instituts. Ein 600-Seiten-Wälzer, den der Spiegel als "grüne Bibel der Jahrtausendwende" bezeichnete. Damals ein ungeahnter Erfolg, der die gesellschaftliche Debatte befeuerte ...
Das mit der Bibel fand ich übertrieben, denn wir haben im Auftrag des Bundes für Umwelt und Naturschutz und von Misereor in einem 20-köpfigen Team vor allem das Wissen der Zeit in ökologischen und Nord-Süd-Fragen aufgearbeitet und eingeordnet.
Das Besondere war vielleicht, dass wir es nicht bei der Empirie und technisch-ökonomischen Szenarien belassen haben, sondern in die Form einer bildhaften Zukunftserzählung gebracht haben, die die Vorstellungskraft anregen sollte.
Damit haben wir damals offenbar einen Nerv getroffen, denn es gab landauf, landab Hunderte von Veranstaltungen, auf denen lebhaft und sehr kontrovers diskutiert wurde. Aber wir haben natürlich auch den Vorwurf erfahren, unser Ansatz sei unwissenschaftlich, ideologisch, realitätsfern. Das war der Preis, aber den haben wir gern bezahlt.
Das heißt: Man wusste 1995 schon, was zu tun ist. Treibhausgase und Ressourcennutzung runter auf ein Zehntel, 100 Prozent Öko-Landbau bis 2010, 30- statt 40-Stunden-Woche.
Ja, es war fast alles bekannt. An der Vorstellung unserer Studienergebnisse nahm 1995 auch Angela Merkel, damals Umweltministerin im Kabinett Kohl, als Gastrednerin teil. Ihr Votum lautete, dass die Studie "Schaffbarkeit" ausstrahle. Wir fanden das auch.
Und warum passierte davon so wenig?
Der Grund, warum insgesamt nur recht wenige unserer Vorschläge umgesetzt wurden, lag neben fehlendem politischen Mut vor allem darin, dass sich seit Anfang der 1990er Jahre ein ökonomisches Paradigma durchgesetzt hat, das nur noch Wettbewerb, Effizienz, Rendite, Wachstum, Welthandelsliberalisierung und Deregulierung kannte.
Dagegen anzukommen war ziemlich schwer. Das kann ich auch aus meiner Erfahrung als Abgeordneter des Deutschen Bundestages sagen, der ich 1998 wurde.
Allerdings gab es unter Rot-Grün auch die eine oder andere Erfolgsgeschichte, etwa das Erneuerbare-Energien-Gesetz, die ökologische Steuerreform oder die Förderung des ökologischen Landbaus. Aber alles in allem war das viel zu wenig, und ab 2005 wurde es eher noch weniger.
Waren Sie im "Zukunftsfähigen Deutschland" nicht viel zu blauäugig?
In manchen Feldern durchaus. Zum Beispiel haben wir nicht vorausgesehen, wie explosionsartig die CO2-Emissionen in China hochgehen. Als wir die Studie schrieben, lagen die entsprechenden Emissionen dort pro Kopf bei zwei Tonnen pro Jahr, heute sind es 7,5 Tonnen. Wir hätten viel stärker die Notwendigkeit einer Kooperation mit China herausstellen müssen.
Ihr akademischer Lehrer Elmar Altvater hat damals kritisiert: Man könne nicht von Nachhaltigkeit reden und vom Kapitalismus schweigen.
Er hatte recht und unrecht zugleich. Recht hatte er, weil wir vielleicht stärker auf die Unvereinbarkeit des Wachstums- und Akkumulationszwangs mit der Nachhaltigkeit hätten hinweisen müssen.
Unrecht hatte er, weil unser ganzes Konzept ja gerade auf der Wiedereinbettung der Ökonomie in die Gesellschaft und die Wiedereinbettung beider in die Natur beruhte. Wir haben also für einen Primat der Politik und einen gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch geworben.
Sie haben in der "Öko-Bibel" die Grenzen des "Umweltraums" definiert, der von den Gesellschaften nicht überschritten werden darf. Je länger der grüne Umbau auf sich warten lässt, desto enger wird er.
Genauso ist es. Wir haben drei Dekaden lang das Notwendige unterlassen. Wenn wir heute nicht konsequent handeln, werden wir in Zukunft nur noch Sachzwänge exekutieren können und die Freiheit verlieren.
Manches ist heute einfach nicht mehr zu verantworten, von neuen Autobahnen über Kohlekraftwerke bis zu hohem Fleischkonsum.
Werden die Bürger das mitmachen?
Ich denke, die Einsichtsfähigkeit der Bevölkerung ist größer, als die Parteien annehmen. Die Akzeptanz von ökologischer Politik steht und fällt aber mit der Frage, ob sie als gerecht empfunden wird.
Nicht einmal die Grünen, deren Mitglied Sie sind, trauen sich, so etwas durchzudeklinieren. Zu viel Angst vor den Wählern?
Ich hoffe nicht. Vor allem hoffe ich, dass sie die Frage von Ökologie und gerechter Transformation nicht auf grünes Wachstum, grüne Märkte und grüne Technologien reduzieren.
Letzte Frage: Was nützt die schönste Bibel, wenn keiner mehr drin liest? Im Klartext: Keine Sorge, dass der nötige Umbau floppt?
Ich glaube, das Gefühl, wir könnten es als Menschheit nicht mehr schaffen, den Planeten lebenswert zu erhalten, kennt jeder Mensch, dem die Natur am Herzen liegt. Alles andere wäre gelogen.
Zu vieles läuft nach wie vor in die völlig falsche Richtung. Aber niemand hat das Recht, diese Sorge in Fatalismus umschlagen zu lassen. Wenn Sie Pathos mögen: Wir sind es unseren Kindern und Kindeskindern und auch den nicht-menschlichen Kreaturen schuldig, die Erde nicht zu zerstören.