Können konkurrierende Unternehmen, Länder oder Städte auf Wachstum verzichten? (Bild: Boy Anthony/​Shutterstock)

Erst spät kam Oliver Krischer hinzu. Auf der Zielgeraden steuerte der Umwelt- und Verkehrsminister Nordrhein-Westfalens aber ein wichtiges Zitat des Tages bei: Auch er habe in seiner politischen Laufbahn Klimaschutz immer als Naturschutzthema gesehen. "Dabei ist die zentrale Frage doch, dass wir über den Schutz von Menschen reden", sagte der Grüne.

Und das sei eben nicht nur Sache des Umweltministeriums, sondern habe mit allen Ressorts zu tun. "Teil meiner Arbeit ist es, das übergreifend in alle Köpfe zu bekommen", sagte Krischer als Podiumsgast der Konferenz für gemeinwohlorientiertes Wirtschaften. Die Grünen-Fraktion hatte dazu Ende Juni in den Plenarsaal des Düsseldorfer Landtags eingeladen.

Der Ort der Veranstaltung war ebenso besonders wie die Liste der Redner:innen. Im Publikum fanden sich neben interessierten Laien oder Jugend- und Kirchenvertreter:innen auch zahlreiche Unternehmer:innen und Politiker:innen aus der Landes- und Kommunalpolitik. Einen Tag lang wurde über die Frage diskutiert, wie die materielle und mentale Transformation zur Nachhaltigkeit funktionieren kann.

Kein "Oder" zwischen Umwelt und Wirtschaft

Zu Beginn beschwor NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur die "Umsetzungsfreude" als Instrument einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik. Nicht überbordende Nachweispflichten, sondern kluge Anwendbarkeit müsse den notwendigen Wandel bestimmen. Denn zwischen Umwelt und Wirtschaft gehöre kein "Oder", sagte die grüne Ministerin.

 

Den gesellschaftlichen Gemeinwohlbegriff reduzierte Neubaur allerdings auf Marktkräfte. Transformationsmaßnahmen wie etwa ein bedingungsloses Grundeinkommen lehnte sie als, wie sie sagte, "individuelle Zuwendungen" ab.

Ganz anders sieht das Silja Graupe. Die Präsidentin der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz bezeichnete es als "grandioses Versagen des Schulsystems, unseres Bildungssystems, dass Menschen in ihren ureigenen gestalterischen Kräften nicht angesprochen werden".

Von Politik und Wirtschaft forderte Graupe mehr Demut und die Anerkennung der Wandelbarkeit und Verletzlichkeit allen Lebens. "Wir haben diese Fähigkeiten, uns zu helfen, in Notsituationen, aber schaffen es nicht, sie in echten Wandel umzusetzen", kritisierte Graupe.

Hilfe in der Not, aber kein echter Wandel

Für das neue Normal, das nicht im ewigen Verlassen auf Sandsäcke bestehen dürfe, braucht es ihrer Ansicht nach sogenannte Heterotopien, also "andere Orte", experimentelle Praktiken wie ein bedingungsloses Grundeinkommen, widerständige Praktiken wie den Protest auch von Gruppierungen wie der Letzten Generation sowie ein Umschmelzen des Bestehenden durch politische Kompromisse – "und das gekonnte, tolerante Zusammenspiel von allem".

Auf dieses Zusammenspiel setzte auch Gastgeberin Antje Grothus. Die Grünen-Abgeordnete war Mitglied der Kohlekommission und wurde durch ihren Einsatz für den Erhalt des Hambacher Forstes bekannt. Die gesellschaftliche Befriedung des Rheinischen Braunkohlereviers gehört zu ihren großen Themen.

"Wir müssen wieder streiten lernen, damit wir unterschiedliche Ideen von gelingendem Leben diskutieren können. Echte Versöhnung kann nur durch Streit- und Diskursfähigkeit stattfinden", sagte Grothus auf der Konferenz. Wachstum müsse nach Qualität gemessen werden, nicht nach Quantität.

Ein Workshop widmete sich der Realität gemeinwohlorientierten Wirtschaftens und den Möglichkeiten echter Nachhaltigkeit auf kommunaler Ebene. Vertreter:innen der Städte Aachen, Köln und Dortmund berichteten von ihren praktischen Erfahrungen mit der Bilanzierung städtischer Betriebe nach den Kriterien der Gemeinwohlökonomie (GWÖ) oder der Unterstützung von Unternehmen, die sich für eine solche Bilanzierung interessieren.

Öffentliche Aufträge können Gemeinwohlökonomie befördern

In Aachen etwa ist die Wirtschaftsförderung gemeinwohlbilanziert. "Das tut auch weh, schafft aber eine Ehrlichkeit und Transparenz, die wir kommunal nötig haben, und es hilft der Verwaltungskultur", sagte Aachens Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen.

GWÖ-Bilanzierung

ist eine Art der Unternehmens-Bilanzierung nach den Prinzipien der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ). Neben den klassischen wirtschaftlichen Kennzahlen werden dabei in gleichem Maße auch ökologische und gesellschaftlich-soziale Indikatoren berücksichtigt. Die Zertifizierung erfolgt durch den Verein Gemeinwohl-Ökonomie Deutschland. Zu den rund 800 gemeinwohl-bilanzierten Unternehmen in Deutschland zählt etwa der Outdoor-Hersteller Vaude.

Auch Aachen stehe wie viele andere Kommunen finanziell mit dem Rücken zur Wand, so Keupen weiter. Doch gerade da sei die GWÖ-Bilanzierung ein wichtiges Instrument. Es helfe, Prioritäten zu setzen, und liefere Argumente.

Ein ganz großer Hebel sei dabei die Vergabe öffentlicher Aufträge, so die Aachener Bürgermeisterin. Auch hier verschaffe das Gemeinwohl-Wirtschaften den Akteuren "Beinfreiheit in der Gewichtung der Kriterien".

Online aus Oxford zugeschaltet, erkundigte sich die Ökonomin Kate Raworth, warum man eigentlich von "entwickelten Ländern" spreche. "Es ist doch nichts Entwickeltes daran, die planetaren Grenzen zu sprengen", kritisierte Raworth, die mit der sogenannten "Donut-Ökonomie" ebenfalls ein Messinstrumentarium für nachhaltiges Wirtschaften geschaffen hat.

Raworths Definition von Wohlstand ist ein "Leben in Wohlbefinden" (living well). Es gehe darum, den Überverbrauch zu reduzieren und endlich die Bedürfnisse aller Menschen zu erfüllen, so die Wirtschaftsprofessorin. Ihre Donut-Ökonomie ist ein ganzheitliches Wirtschaftsmodell, das den Bedürfnissen aller Menschen gerecht werden soll, ohne die planetaren Grenzen zu sprengen.

 

"Seid Wachstumsagnostiker!", appellierte Raworth an die Zuhörenden im Plenarsaal und ermunterte zur Vernetzung mit einem weiteren kommunalen Projekt: Die Stadt Bad Nauheim entwickelt gerade in einem Teilhabemodell eine Nachhaltigkeitsstrategie anhand der Kriterien der Doughnut-Ökonomie.

Minister Krischer ließ sich mit dem Fazit vernehmen: "Die Frage, geht es einem Land gut oder schlecht, darf nicht ans Bruttoinlandsprodukt gekoppelt sein." Was davon in der praktischen Politik ankommt, wird zu beobachten sein.