Michael Müller. (Bild: Martin Sieber)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-​Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Herr Müller, in seiner Regierungserklärung sagte der neue Kanzler Friedrich Merz, die schwarz-rote Koalition werde an den Klimazielen festhalten. Als einziges Instrument erwähnte er den CO2-Preis, erneuerbare Energien kamen gar nicht vor. Wie schauen Sie klimapolitisch auf die neue schwarz-rote Regierung?

Michael Müller: Erstens sind schon die Klimaziele unzureichend, zweitens fehlt eine überzeugende Strategie der sozial-ökologischen Gestaltung der Transformation. Und drittens sehe ich in der Regierungserklärung vor allem eine Fortsetzung der neoliberalen Ideologie, von der bei der überfälligen Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht viel zu erwarten ist.

Heute kann man in Fortsetzung der grünen Klimapolitik von einem "progressiven Neoliberalismus" sprechen. Man kann in Einzelbereichen durchaus für sich einen fortschrittlichen Kurs in Anspruch nehmen, aber dennoch dem rückschrittlichen Zeitgeist anhängen.

Das ist das, was heute vorherrscht: scheinbare Radikalität, aber die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen werden gar nicht in Erwägung gezogen. Doch diese sind entscheidend.

Der "moderne" Kapitalismus hat sich tief in die gesellschaftlichen Lebensformen eingefressen. Ohne eine grundlegende Korrektur wird es keine wirksame Klimapolitik geben.

Ich bin gespannt, was jetzt passiert. Der neue Umweltminister hat angekündigt, dass er den sozialen Ausgleich beim geplanten Anstieg des CO2-Preises durchsetzen will. Mir fehlt zurzeit die Vorstellungskraft, wie er das hinbekommen will.

Der bisherige Weg ist falsch, zumindest viel zu kurz angelegt und kann in einer Sackgasse enden. Wenn soziale und ökologische Ziele nicht miteinander verbunden werden, ist ein Umsteuern nicht möglich.

Und wo bleiben andere notwendige Maßnahmen wie eine ökologische Industrie- und Mittelstandspolitik oder ökologische Dienstleistungen? Wo bleibt die Reform der Personal- und Betriebsverfassung mit einer Erweiterung um ökologische Mitbestimmungsziele – und generell die Erweiterung der Demokratie?

Natürlich lässt sich das mit einem Kanzler Friedrich Merz nur schwer durchsetzen, aber es muss zumindest versucht werden.

Wahrscheinlich wird Deutschland bis 2030 zwar sein CO2-Budget einhalten, aber sein CO2-Reduktionsziel verfehlen, befand diese Woche der Expertenrat für Klimafragen. Offiziell stellte der Rat aber keine Zielverfehlung fest – damit muss die Regierung in diesem Jahr kein Sofortprogramm vorlegen. Scheut die Klimawissenschaft jetzt schon die Auseinandersetzung mit der Politik?

Von dem Bericht bin ich enttäuscht. Aber vielleicht ist die "Bescheidenheit" der Zeitgeist. Klimapolitik muss sich an der Notwendigkeit der Herausforderung orientieren – nämlich der Bewahrung des Erdsystems – statt am politischen Mainstream mit nur einzelnen Forderungen und Zielen.

Dabei zeigt sich das Grunddilemma, dass der Schutz des Erdsystems nicht das zentrale Ziel der Regierungspolitik ist, ja es noch nie war. Aber darum geht es eben: das Erdsystem zu schützen, damit es seine Fähigkeit bewahrt, menschliches Leben auf Dauer zu ermöglichen.

Ein solcher Expertenrat muss unbequeme Wahrheiten aussprechen, wie der Schutz von Mensch und Natur auf unserem übernutzten, verschmutzten und instabilen Planeten gesichert werden kann.

Der Fehler fängt schon damit an, dass die Aussagen des Expertenrats nicht das Erdsystem als Ganzes zum Ausgangspunkt ihrer Bewertung machen. Vielleicht sollte – wie in der Wirtschaftspolitik – ein alternativer Klimarat gegründet werden.

Die Anfang der Woche vorgestellte neue Umfrage vom Umweltbundesamt zeigt: Das Umweltbewusstsein in Deutschland ist noch immer hoch, nimmt aber deutlich ab. Wie lässt sich der Trend umkehren?

Die Antwort auf den Abwärtstrend, zu dem auch die Klimalügen der AfD und die unzureichende Klimapolitik der Mitte-Parteien beigetragen haben, ergibt sich aus den vorherigen Antworten: Solange es keinen ernsthaften Umbaupfad für die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft gibt, bleibt alles andere unzureichend.

Es fehlt die notwendige Ernsthaftigkeit, den Weg eines führenden Landes für die Bewahrung eines guten menschlichen Lebens zu gehen. Klimapolitik muss die Menschen elektrisieren, ihre Kreativität anstacheln und sie in Verantwortung und Mut fördern.

Um zum Ende des Jahrhunderts nicht bei einer der neun planetaren Grenzen im Hochrisiko-Bereich zu liegen, reicht eine gute Klimapolitik nicht aus, verdeutlicht eine Studie unter Beteiligung des Potsdam-Instituts.

Haben wir zu lange nur über die Klimakrise gesprochen und andere Folgen des menschlichen Wirtschaftens wie die Artenkrise und die Störung von Stoffkreisläufen zu wenig beachtet?

Die anderen Risiken sind nicht neu, aber viel zu wenig im Bewusstsein. Es geht um das Erdsystem insgesamt.

Bei den planetaren Grenzen ist auch zu beachten, dass sie vielfältige Wechselwirkungen und Abhängigkeiten untereinander haben. So habe ich die bisherige Debatte auch verstanden. Die Klimakrise ist gleichsam der Kristallisationspunkt für die Herausforderung insgesamt.

Ich halte es deshalb für falsch, die Antwort auf Elektrifizierung zu verkürzen, wie das vor allem bei der Verkehrswende angesagt ist. Es ist kein klimapolitischer Fortschritt, mit einem E‑SUV um die Ecke zum Öko-Markt zu fahren.

Wir überlasten das Erdsystem im Ganzen. Die menschlichen Eingriffe in die ökologischen Systeme müssen zurückgefahren werden, der Ressourcenverbrauch ist viel zu hoch. Das hängt zusammen. Von daher müssen wir über die soziale und ökologische Modernisierung genauso reden wie über Suffizienz und Solidarität.

 

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Dass immer noch die unsinnige Forderung erhoben wird, wieder in die Atomenergie einzusteigen, ist ein Zeichen entweder von Unbelehrbarkeit oder von militärtechnischen Interessen.

Aus energiepolitischer Sicht ist die Nützlichkeit der Atomkraft durch Erfahrungen in Ländern wie Frankreich und Großbritannien längst in aller Härte widerlegt. Man denke etwa an Kosten, Bauzeiten und fehlende Endlager.

Doch es gibt Unverbesserliche. Wollen sie die Sicherheitsstandards hinter die Vorgaben von Klaus Töpfer und Angela Merkel zurückschrauben, die im Atomgesetz als Maßstab für eine Genehmigung das Ziel vorgaben, dass die Folgen eines Atomunfalls auf die Anlage beschränkt bleiben müssen?

In den meisten "Atom-Ländern" wird die Kernkraft deshalb gefördert, weil dies militärische Gründe hat. Das gilt auch für die Länder, die heute neu einsteigen wollen – so wie das Mitte der 1950er Jahre in Deutschland bei Konrad Adenauer und Franz-Josef Strauß der Fall war.

Fragen: Jörg Staude, David Zauner

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