Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung, also über vier Milliarden Menschen, lebt in Gebieten, die gleichzeitig stark von mehreren, sich gegenseitig aufschaukelnden Umweltkrisen betroffen sind – wie Rückgang der biologischen Vielfalt, Klimawandel und Wassermangel. Das bedroht dort zunehmend die Ernährungssicherheit, erhöht Gesundheitsrisiken und hat negative soziale Folgen.
Doch es gibt Möglichkeiten, die multiplen Krisen zu bewältigen. Das gelingt aber nur dann effektiv, wenn bei ihren miteinander verbundenen Ursachen angesetzt wird, wie zwei neue UN-Berichte zeigen.
Es ist keine ganz neue Erkenntnis, dass die Krisen miteinander verbunden sind. So führen steigende globale Temperaturen bekanntermaßen nicht nur zu mehr extremen Wetterereignissen mit negativen Effekten auf die Ernteerträge, sondern verstärken auch den Artenschwund.
Die Trockenlegung von Mooren wiederum, um landwirtschaftliche Anbaufläche zu gewinnen, vernichtet große Kohlenstoffspeicher im Boden und reduziert direkt die Artenvielfalt.
Oder: Die Erhöhung des materiellen Wohlstandes in Schwellenländern wie China oder Südafrika führt gleichzeitig zu erhöhter Luft- und Wasserverschmutzung, damit zu höheren Gesundheitskosten und vorzeitigen Todesfällen.
Getrennte Bearbeitung der Krisen vielfach wirkungslos
Die jetzt vorgelegten Berichte des Weltbiodiversitätsrats der Vereinten Nationen (IPBES) analysieren solche Zusammenhänge im Detail. Als Schlussfolgerung daraus betonen die Autor:innen des ersten dieser Werke, "Nexus-Report" genannt: Die ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Krisen sind so eng miteinander verknüpft, dass sie nur gemeinsam gelöst werden können.
Bisherige Versuche, sie getrennt zu bewältigen, hätten sich als vielfach als unwirksam und in Teilen sogar als kontraproduktiv erwiesen. Dies habe unter anderem zu einer uneinheitlichen Politikgestaltung geführt.
Damit bestehe "die reale Gefahr, dass wir eine Krise lösen, indem wir die anderen verschlimmern", sagte Paula Harrison, Professorin an der britischen Lancaster University und eine Leitautorin des Nexus-Berichts.
Die positive Botschaft des Nexus-Reports ist, dass es Lösungen gibt, die gleichzeitig Verbesserungen in allen Krisenfeldern ermöglichen.
Den Bericht haben 165 Experten aus 57 Ländern erarbeitet, er wurde unlängst auf einem Treffen von Vertretern der 147 IPBES-Mitgliedsstaaten in Namibia gebilligt. Untersucht werden darin mehr als 70 Szenarien zur Verbesserung der Krisenbewältigung in fünf Bereichen: biologische Vielfalt, Wasser, Ernährung, Gesundheit und Klimawandel.
Aufforstungs- und Energiewendeprojekte oft nicht durchdacht
De Verwobenheit der Probleme wird darin an zahlreichen Beispielen dargestellt. Eines davon: die tropischen Korallenriffe, eines der gefährdetsten Ökosysteme weltweit. Sie sind laut dem Report nicht nur durch die globale Erwärmung, sondern auch durch Überfischung und die Verschmutzung der Ozeane bedroht.
Der in den kommenden Jahrzehnten erwartete Verlust der Korallenriffe hat laut IPBES Auswirkungen auf rund eine Milliarde Menschen, denen die Riffe entweder als Schutz vor Stürmen, Nahrungsgrundlage durch Fischfang oder Einkommensquelle durch Tourismus dienen.
"Es besteht die reale Gefahr, dass wir eine Krise lösen, indem wir die anderen verschlimmern." – Paula Harrison, Leitautorin des Nexus-Berichts
"Selbst wenn das Klimaproblem gelöst würde, würden die Korallenriffe weiterhin von Umweltverschmutzung, Überfischung und anderen Bedrohungen betroffen sein", betonte Co-Autorin Pamela McElwee von der Rutgers University in den USA. Die Probleme müssten also gleichzeitig angepackt werden.
Bei bisherigen Lösungsversuchen wurden laut dem UN-Rat oftmals wichtige Zusammenhänge nicht bedacht. So kann die Aufforstung von Wäldern, um per Fotosynthese CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen, Agrarflächen verringern, die für die Ernährung wichtig sind, oder den örtlichen Ökosystemen schaden, wenn die Arten falsch ausgewählt werden.
Weiteres Beispiel: Der Bau von klimafreundlichen Windkraftanlagen kann bei schlechter Standortwahl negative Auswirkungen auf die Population von Vögeln und Fledermäusen haben.
Plädoyer für Umdenken im Mensch-Natur-Verhältnis
Gefördert werden müssten Lösungen, die sich positiv auf alle Krisen auswirken, so die Expert:innen. McElwee führt als Beispiel die Ausweisung von Meeresschutzgebieten an: "Diese Gebiete erhöhen die Artenvielfalt, steigern den Fischreichtum zur Ernährung der Bevölkerung, erhöhen das Einkommen der lokalen Gemeinschaften und oft auch die Einnahmen aus dem Tourismus."
Ein weiteres Beispiel: Die Reduzierung des Fleischkonsums, der in den meisten Industrie- und Schwellenländern erhöht ist, kann eine Vielzahl positiver Effekte haben, darunter eine bessere Gesundheit der Menschen, weniger CO2-Ausstoß und geringeren Druck auf die Umwandlung von Tropenwäldern in Weideland.
Plädiert wird in dem Report auch dafür, mehr Grün in die Städte zu bringen. Dies helfe nicht nur, die Gefahr der Überhitzung zu mindern, es verbessere auch die Luftqualität oder die Wasserverfügbarkeit.
Der zweite IPBES-Bericht heißt "Transformative Change Report" und setzt ebenfalls hier an. Die rund 100 Autor:innen plädieren für ein fundamentales Umdenken in der Art und Weise, wie Menschen die Natur sehen und mit ihr umgehen, um den Verlust an Biodiversität aufzuhalten.
Es brauche neue Sichtweisen und Werte statt eines einseitigen "Silo-Blicks", um die Verflechtung von Menschen und Natur zu erkennen. Die Politik könne dies aktiv unterstützen, so das Forschungsteam.
Zudem müsse die biologische Vielfalt automatisch bei Entscheidungen in vielen anderen Sektoren mitgedacht werden. "Infrastruktur und Stadtentwicklung, Bergbau und fossile Brennstoffe tragen erheblich zur Verschlechterung des Zustands der Natur bei", sagte ein IPBES-Experte, der Argentinier Lucas Garibaldi. Dies müsse gestoppt und der Trend umgekehrt werden.
Der positive Aspekt dabei: Die aus Sicht des Biodiversitätsrates notwendigen Veränderungen würden nicht nur Kosten verursachen, sondern zusätzliche Wertschöpfung in Billionenhöhe ermöglichen. Schätzungen zufolge könnten bis 2030 dadurch weltweit 395 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden, heißt es in dem Report.