Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.
Klimareporter°: Herr Müller, den beiden SPD-Vorsitzenden wurde vorgeworfen, mit ihrer strikten Ablehnung von Kaufprämien für Benzin- und Diesel-Pkw die Interessen der Beschäftigten in der Autobranche ignoriert zu haben. Der IG-Metall-Chef sprach sogar von einer "industriepolitischen Geisterfahrt". Überholt die SPD jetzt sogar die Grünen?
Michael Müller: Die Haltung der SPD-Spitze zur Kauf- oder Abwrackprämie ist richtig, denn die Lernunfähigkeit und die ökologische Innovationsschwäche der Automobilindustrie sind notorisch. Wenn von einer "Geisterfahrt" die Rede sein kann, dann betrifft das eher die Autoindustrie.
Ich frage mich, warum die Gewerkschaften, speziell die IG Metall, immer wieder Veranstaltungen zur Zukunft der motorisierten Mobilität durchführen, ohne dass daraus Konsequenzen gezogen werden.
Heute sind über 40 Prozent bei den Neuzulassungen SUV. Ihr Aufschwung ist eine Folge der Einspritztechnik bei Dieselmotoren. Sie verbrauchen rund 20 bis 25 Prozent mehr Sprit als gleich motorisierte Pkw und auch der Ressourceneinsatz ist deutlich höher.
Dass diese Monster der Verkaufsrenner der deutschen Automobilindustrie sind, kann an einer ökologischen und auch sozialen Kritik nichts ändern. Immer wieder hat die Autobranche ökologische Vorgaben blockiert.
Dennoch muss gesehen werden, dass der Umbau der Autoindustrie unter den Zwängen der globalen Märkte eine besondere Herausforderung ist. Sie ist aber nicht mit gegenseitigen Blockaden zu bewältigen.
Vielmehr ist auf der Basis der ökologischen Notwendigkeiten, vor allem beim Klimaschutz, ein intensiver Diskurs notwendig, wie der Umbau – der weit über die Elektromobilität hinausgeht – sozial verträglich und wirtschaftlich innovativ bewältigt werden kann.
Die IG Metall hat im letzten Jahr in Berlin die Großdemonstration "Fairwandel" mit über 50.000 Teilnehmern durchgeführt. Das zeigt für mich, dass die Gewerkschaft die Herausforderung sehr wohl erkannt hat.
Es geht darum, die Umweltziele in eine gesellschaftliche Reformstrategie einzuordnen. Deshalb brauchen wir nicht nur einen Green Deal, wie ihn die EU-Kommission vorhat, sondern einen Green New Deal. Der New Deal hatte 1933 in den USA das Ziel, die Wirtschaft sozial zu disziplinieren. Er muss auf dieser Basis ökologisch erweitert werden. Der Unterschied ist gravierend.
Wir sind also an einem Wendepunkt der europäischen Moderne. Es geht nicht um Einzelforderungen oder Teilsysteme, sondern um eine Erneuerung der Fortschrittsidee. Die ihr zugrunde liegende "Linearität", die aus der jüdisch-christlichen Tradition stammt, wurde immer stärker auf technischen Fortschritt und wirtschaftliches Wachstum reduziert. Das ist aber nicht vereinbar mit den ökologischen Grenzen des Wachstums, die sich im Raubbau an den Ressourcen und in der Überlastung der natürlichen Senken zeigen.
Die Verbindung von Arbeit mit Umwelt und Klima ist dafür ein zentrales Ziel. Insofern plädiere ich gerade jetzt für intensive Gespräche der Umweltverbände mit den Gewerkschaften. Sie sind aufeinander angewiesen. Ohne den ökologischen Umbau wird es künftig keine soziale Stabilität geben, ohne soziale Sicherheit wird der ökologische Umbau nicht möglich.
Nach Monaten des Streits hat die Bundesregierung endlich ihre Wasserstoffstrategie verabschiedet. Wirtschaftsminister Altmaier stellt sie auf eine Stufe mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz. Wird Wasserstoff unser Energiesystem ähnlich umwälzen wie EEG und Ökostrom?
Bei den erneuerbaren Energien gab es eine breite Unterstützung in der Gesellschaft. Der Ausbau wurde getragen von vielen engagierten Gruppen und im Bundestag anfangs von einer überparteilichen Gruppe von Abgeordneten, deren Einstieg das Stromeinspeise-Gesetz war.
Die Einführung der erneuerbaren Energien ist von unten erfolgt und ihr Wachstum hat alle Prognosen über den Ökostrom-Anteil übertroffen. Dadurch konnten die Widerstände und Blockaden überwunden werden – bis das EEG im letzten Jahrzehnt immer stärker politisch durchlöchert und der Ausbau gedeckelt wurde.
Bei der Wasserstoffstrategie ist die Ausgangssituation eine andere. Lange Zeit geschah gar nichts, nun soll das Versäumte schnell nachgeholt werden.
Entscheidend ist, dass die Strategie auf "grünen Wasserstoff" setzt, also auf einer breiten Basis von erneuerbaren Energien aufbaut, die dafür erheblich ausgebaut werden müssen. Denn für die Wasserstoffelektrolyse sind enorme Mengen an Energie notwendig. Geschieht die Elektrolyse mithilfe konventioneller Energien, steigt die Umweltschädlichkeit.
Wesentlich ist die Einordnung in eine Gesamtstrategie. Dabei sind weitere ökologische Kriterien zu beachten. Besonders kommt es auf die intelligente Verknüpfung der Sektoren Mobilität, Wärme, Industrie und Landwirtschaft an.
Als das Konjunkturpaket vorgestellt wurde, gab es viel Lob, weil die Bundesregierung keine Abwrackprämie beschlossen hat. Mittlerweile befanden Wissenschaftlerinnen und Umweltschützer, dass das Konjunkturpaket gar nicht so "grün" ist. Was ist von den geplanten Maßnahmen zu halten?
Das Programm steht unter dem Ziel, sowohl die Konjunktur schnell zu beleben als auch den "Strukturwandel" einzuleiten. Es zeigt, dass in Notsituationen die Politik große Summen bewegen kann. Auch zeigt sich, wie wichtig ein starker Staat ist.
Für mich zeigt sich aber auch in dem Konjunkturprogramm die entscheidende Schwäche, dass es keine mutige Strategie der sozial-ökologischen Gestaltung der Transformation gibt. Es werden in beiden Bereichen einzelne Programme und Forderungen aufgegriffen, aber es gibt keine erkennbare Gesamtstrategie.
Hier gilt dasselbe wie beim Green Deal der Europäischen Union. Die Programme sind vor allem durch ihr Volumen beeindruckend, aber nicht durch ihre programmatische Linie.
Heute erleben wir nicht nur, um es mit John Maynard Keynes zu sagen, das Altersrheuma der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung, sondern auch die Geburtsschmerzen einer neuen Epoche. Die Coronakrise ist ein Warnschuss vor den Bug der Industriegesellschaften, die von dem größten planetarischen "Virus" bedroht werden, das die Erdatmosphäre, das Immunsystem unseres Planeten, zerstört.
Die Politik kennt überwiegend entweder nur Korrekturen am Bestehenden oder nur das Neue. Was fehlt, ist eine Umbaustrategie. Die Umweltpolitik muss zur Gesellschaftspolitik werden, wenn sie erfolgreich sein soll.
Im Paris-Abkommen haben die Staaten vereinbart, im Jahr 2020 verbesserte Klimaziele für 2030 vorzulegen. Doch die allermeisten Länder lassen sich Zeit damit. Ist das nur eine Formalie oder hat die internationale Klimadiplomatie ein Problem?
Die Erfahrung zeigt, dass die internationale Klimadiplomatie von dem Widerspruch zwischen Wissen und Handeln geprägt ist. Es gibt unterschiedliche Gründe, warum das so ist: Ignoranz, ein Regime der Kurzfristigkeit, Angst vor wirtschaftlichen Krisen et cetera.
Der wichtigste Grund ist sicherlich, dass der Klimaschutz gegen die globalen Zwänge kapitalistischer Wachstumsmärkte durchgesetzt werden muss. Das kann sich mit der Coronakrise noch verschärfen, weil sich mit ihr auch die sozialen Unterschiede vergrößern können.
Die Schlüsselfrage ist, ob große Stadtregionen, wichtige Unternehmen oder auch Wirtschaftsgemeinschaften wie die EU zu Vorreitern werden. Auf jeden Fall sind die globalen Verständigungsprozesse zu langsam.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Die enorme Steigerung beim weltweiten Ausbau der erneuerbaren Energien um mehr als zwölf Prozent im letzten Jahr. Die Solarenergie hat das höchste Jahreswachstum erreicht. Die Investitionen in die Windkraft stiegen sogar um 18 Prozent. Seit fünf Jahren entfällt das Gros der Investitionen auf die Entwicklungs- und Schwellenländer.
Zwar lag Deutschland bei den Gesamtinvestitionen im letzten Jahrzehnt weltweit auf Platz vier, aber traurigerweise ist unser Land in den letzten Jahren abgerutscht und erreicht jetzt nur noch Platz vier in Europa. An diesen Zahlen zeigen sich die Folgen der Blockaden und Deckelungen der erneuerbaren Energien in Deutschland.
Dabei sind in den letzten zehn Jahren die Kosten für Photovoltaikanlagen um 83 Prozent gesunken, die für Windanlagen an Land um 49 Prozent und die für Offshore-Anlagen um 51 Prozent.
Fragen: Jörg Staude, Sandra Kirchner