Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Claudia Kemfert, Professorin für Energiewirtschaft und Chefin des Energie- und Umweltbereichs am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW.
Klimareporter°: Frau Kemfert,"Deutschland spart sich kaputt" lautete Ihr Kommentar, als Anfang Juli erste Details des Haushaltsentwurfs der Ampel für 2025 bekannt wurden. In dieser Woche verabschiedete nun das Bundeskabinett die Vorlage. Halten Sie an Ihrem Urteil fest oder hat sich Ihre Sicht inzwischen geändert?
Claudia Kemfert: Bei meiner Einschätzung bleibe ich. An der Schuldenbremse in Zeiten derart fundamentaler Krisen festzuhalten, behindert die dringend notwendige Transformation der Industrie und der gesamten Wirtschaft. Das Beharren auf der Schuldenbremse engt Zukunft und Freiheit ein und schadet uns wirtschaftlich.
Es fehlen Gelder in Milliardenhöhe für viele wichtige Bereiche, wie die Stärkung der Schiene, des ÖPNV – beispielsweise zur Finanzierung eines Neun-Euro- oder zumindest 29-Euro-Tickets – oder auch für mehr finanzielle Unterstützung der energetischen Gebäudesanierung.
Natürlich könnten auch Mehreinnahmen generiert werden, etwa durch eine Steuer für fossile Unternehmen oder eine Vermögenssteuer für Superreiche.
Wir brauchen dringend mehr soziale Gerechtigkeit. Und die kann mit Energiewende und Klimaschutz geschaffen werden.
In einer derart schwierigen Zeit auf Sparmaßnahmen zu setzen, ist grundfalsch. In Krisenzeiten muss investiert werden. Und das sollten wir jetzt tun.
Europa erreicht seine Ziele beim Wasserstoff-Hochlauf nicht, stellt der EU-Rechnungshof in einem jetzt veröffentlichten Bericht fest. 2030 sollen laut EU-Kommission zehn Millionen Tonnen grüner Wasserstoff erzeugt und weitere zehn Millionen Tonnen importiert werden. Das beruhe nicht auf einer soliden Analyse, sondern sei rein von politischem Willen geleitet, schreiben die EU-Prüfer. Ist der Wasserstoff-Hype nur ein Wunschkonzert?
Mehr Wunsch als Wirklichkeit, genau. Deutschland zum Beispiel plant eine eigene Erzeugung von 10.000 Megawatt Wasserstoff für 2030, realisiert wurden bisher 80 Megawatt. Es gibt keine Infrastruktur und es gibt so gut wie keine Schiffe, die derzeit überhaupt Wasserstoff transportieren könnten. Es ist vor allen Dingen Zukunftsmusik.
Wichtig ist auch zu betonen, dass es nur grünen Wasserstoff geben darf, also aus Ökostrom hergestellten. Dieser hat allerdings geringe Wirkungsgrade. Drei- bis fünfmal so viel Ökostrom wird für die Herstellung benötigt, als wenn man Ökostrom direkt nutzen würde, beispielsweise in einem Elektroauto oder einer Wärmepumpe.
Die großen Wasserstoff-Träume müssen kritisch betrachtet werden, besonders wenn fossile Energien für die Herstellung zum Einsatz kommen sollen.
Der ganze "H2-ready"-Hype ist zu großen Teilen eine Fata Morgana. Er ist verbunden mit der Absicht, vor allen Dingen fossile Erdgas-Kraftwerke und Infrastrukturen möglichst lange weiter nutzen zu können. Deshalb ist es gut und richtig, sich ehrlich zu machen und wirklich nur solche Projekte zu fördern, wo Nachhaltigkeit im Vordergrund steht.
Wasserstoff hat nur dort Sinn, wo es keine direkte elektrische Alternative gibt, also vor allen Dingen im Bereich der Schwerindustrie. Solche Projekte, insbesondere aus der Industrie, sind unterstützenswert.
Vergangene Woche ist die langjährige Bundeskanzlerin Angela Merkel 70 Jahre alt geworden. Wenn Sie auf die 16‑jährige Regentschaft zurückblicken, was waren unter Merkel die großen Klima-Fortschritte? Was die größten Versäumnisse?
Ich wünsche Angela Merkel zum 70. Geburtstag alles Gute. Sie hat sicherlich viel geleistet.
Der Punkt Klimaschutz war allerdings eines ihrer größten Versäumnisse, wie sie selbst in einem Interview zugegeben hat. Als Physikerin weiß sie ganz genau, was der Klimawandel bedeutet und welche gravierenden Auswirkungen er hat. Deutschland hätte in ihrer Amtszeit viel mehr erreichen können, als erreicht wurde.
Einer ihrer größten Fehler aber war die große Abhängigkeit von russischem Gas, die uns in die fossile Falle tappen ließ. Wir zahlen einen hohen Preis für die verschleppte Energiewende – und für den verschleppten Klimaschutz, der uns heute viele Milliarden kostet, wie man an aktuellen Extremwetterereignissen ablesen kann.
Klar – es geht immer auch um politische Mehrheiten, aber die hätte sie durchaus haben können. Sie konnte fundamentale Entscheidungen wie den Atomausstieg oder die Ehe für alle durchsetzen. Sie hätte auch mehr Klimaschutz durchsetzen können. Sie hätte mehr erreichen können, wenn sie es gewollt hätte.
Deutschlands einstige Vorreiterrolle bei der Energiewende wurde verspielt, was den Ausbau der erneuerbaren Energien, die Batterieforschung und Batterieproduktion wie auch technologische Neuerungen bei der Energieeffizienz angeht. Wir haben sehenden Auges und willentlich die Märkte anderen überlassen.
Merkel hat die Energiewende ausgebremst und den Klimaschutz nicht ausreichend vorangebracht. Möglich wäre es gewesen. Das ist bitter, besonders für die kommenden Generationen.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Positiv überraschend war, dass mit der erneuten Wahl von Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin der EU-Green-Deal nicht stirbt beziehungsweise wichtige Bereiche nicht zurückgedreht werden.
Die CO2-Minderungsziele der EU – minus 55 Prozent bis 2030, minus 90 Prozent bis 2040, Klimaneutralität 2050 – sollen eingehalten werden. Es soll immerhin um europäische Wettbewerbsfähigkeit gehen – durch einen ökologischen Wandel.
Zu befürchten war ein klimapolitisches Rollback. Zwar ist eine Rückabwicklung von Rechtsakten, die unter dem Green Deal bereits beschlossen wurden, eher unwahrscheinlich. Aber es gibt viele Revisionsklauseln, die zu einer Abschwächung schon vereinbarter Ziele hätten führen können.
Das scheint fürs Erste ausgeräumt zu sein. Und hoffentlich wird es mehr soziale Gerechtigkeit für eine bessere Klimapolitik geben. Ohne soziale Gerechtigkeit werden rechte Parteien weiter erstarken. Es liegt in der Hand der wiedergewählten Kommissionspräsidentin, das zu verhindern.
Fragen: Jörg Staude und David Zauner