"Harrisburg ist überall!" So lautete der Slogan, mit dem Atomgegner 1979 nach dem ersten Beinahe-Super-GAU der Geschichte in einem Leistungsreaktor mobil machten. In Block 2 des AKW Three Mile Island nahe der Kleinstadt an der US-Ostküste war es zu einer teilweisen Kernschmelze gekommen, die das Innere des Reaktors verstrahlte.
Radioaktive Gase gelangten an die Luft und kontaminiertes Wasser in den Fluss Susquehanna, die Angst vor einer Mega-Katastrophe ging um, wie sie später in Tschernobyl und Fukushima passierte. Bis zu 200.000 Menschen flohen oder wurden evakuiert.
Doch ausgerechnet ein Teil der Anlage, Block TMI‑1, soll nun wieder ans Netz genommen werden.
Harrisburg als Signal für eine Renaissance der Atomkraft? Der Software-Konzern Microsoft will den Strom aus dem bei dem Fast-GAU unversehrt gebliebenen Reaktor für seine Rechenzentren nutzen.
Microsoft hat mit dem Betreiber Constellation Energy einen Stromabnahmevertrag über 20 Jahre geschlossen. Das Unternehmen will den Block für 1,6 Milliarden Dollar erneuern und bis 2028 wieder ans Netz bringen.
TMI-1 hatte bis 2019 Strom geliefert, wurde dann aber aus ökonomischen Gründen geschlossen. Constellation-Chef Joseph Dominguez sagte dazu: "Die Symbolik ist enorm. Das war der Ort des größten Misserfolgs der Industrie. Jetzt kann es der Ort der Wiedergeburt sein."
Rechenzentren und Industrie brauchen immer mehr Strom
Nicht nur der Software-Multi Microsoft, der sogar "CO2-negativ" werden will, erwärmt sich für eine Technologie, die eigentlich schon abgeschrieben schien. Auch der Konzern Amazon hat für seine Cloud-Sparte im Frühjahr im US-Bundesstaat Pennsylvania ein Rechenzentrum gekauft, das mit Strom aus einem nahen AKW betrieben wird.
Der Software- und Hardwarehersteller Oracle wiederum will drei Mini-Reaktoren (Small Modular Reactors, SMR) bauen lassen, die für viele in der Atombranche als Hoffnungsträger gelten. Und Sam Altman, Chef des Chat‑GPT-Entwicklers Open AI, hat Geld in ein Start‑up investiert, das ebenfalls SMR entwickelt.
Dass gerade in den USA aktuell so viel über die nukleare "Renaissance" gesprochen wird, ist kein Zufall. Hier droht Knappheit auf dem Strommarkt, weil die Nachfrage nach vielen Jahren mit nur mäßigem Verbrauchswachstum stark ansteigt.
Eine Flut neuer Rechenzentren aufgrund des Booms von künstlicher Intelligenz, Cloud- und Streaming-Diensten und der Produktion von Kryptowährungen, aber auch die anstehende Elektrifizierung von Produktionsprozessen in der Industrie lassen die Atomkraft für viele Manager in neuem Licht erscheinen.
So will der Chemie-Multi Dow eine Produktionsstätte in Texas mit Strom aus einem Mini-AKW des Herstellers X‑Energy betreiben, das bis 2030 einsatzbereit sein soll. Auch der größte US-Stahlhersteller Nucor, der für die Produktionsumstellung große Mengen CO2-freien Stroms braucht, will dafür nicht allein auf erneuerbare Energien setzen.
Nucor-Chef Leon Topalian sagte: "Wind und Sonne werden dafür nicht ausreichen." Nucor investiert in Mini-AKW und ein weiteres Start‑up, das Unternehmen Helion Energy, das bis 2028 sogar schon ein funktionsfähiges Kernfusions-Kraftwerk liefern will.
Unter Marktbedingungen nicht finanzierbar
Doch auch außerhalb der USA versuchen immer mehr Länder, der Atomkraft wieder einen Push zu geben, deren globale Kapazität seit Jahren stagniert und deren Anteil am weltweiten Stromverbrauch sich seit der Hochzeit vor einem Vierteljahrhundert auf nur noch rund neun Prozent halbiert hat.
Frankreich will eine Serie neuer AKW bauen, auch Schweden, das eigentlich aus der Atomkraft aussteigen wollte, plant neue Reaktoren. In Europa gibt es eine Reihe weiterer Aspiranten, so die Niederlande und Belgien, auch in der Schweiz wird darüber diskutiert. Neubaupläne gibt es auch in Polen, Rumänien und Bulgarien.
Sogar das Entwicklungsland Bangladesch will 2025 sein erstes AKW in Betrieb nehmen, und soeben hat auch die Ex-Sowjetrepublik Kasachstan die Weichen für den Einzug ins Nukleargeschäft gestellt. In einem Referendum am Sonntag stimmte eine Mehrheit von 71 Prozent für den Bau eines Reaktors in dem Land, dessen Stromproduktion bisher vor allem auf Kohle beruht.
Die Frage ist allerdings, wie realistisch die ganzen Renaissance-Pläne sind. AKW-Neubauten müssen unter marktwirtschaftlichen Bedingungen gegen Alternativen konkurrieren, die viel weniger kapitalintensiv sind und schneller gebaut werden können – vor allem die Erneuerbaren.
Die Erfahrung mit neuen Reaktoren in Frankreich, Finnland und Großbritannien zeigen gewaltige Bauzeit- und Kostenüberschreitungen, ebenso die beiden Blöcke, die in den USA unlängst nach 15 Jahren Bauzeit ans Netz gingen. Die Reaktoren des AKW Vogtle im Bundesstaat Georgia kosteten 30 Milliarden Dollar, doppelt so viel wie geplant.
In Großbritannien fiel der Beschluss zum Bau des neuen Doppel-Reaktors Hinkley Point C erst, nachdem die Regierung dem Betreiber eine Einspeisevergütung garantiert hatte, die weit über Marktniveau liegt, und zusätzlich einen Inflationsausgleich.
Auch in China spielt Kernkraft keine große Rolle
Die absolut dominierende Rolle bei den AKW-Neubauten spielen derzeit nur zwei Länder, China und Russland, Staaten also, in denen der Energiesektor stark staatlich gelenkt ist. So gab es laut dem jüngst vorgelegten "World Nuclear Industry Status Report 2024" in den letzten fünf Jahren weltweit 35 Baustarts, davon 22 in China sowie 13 durch Russland in verschiedenen Staaten.
Der Hauptautor des Reports, der deutsch-französische Nuklear-Analyst Mycle Schneider, betont allerdings: Selbst in China sei der Atomausbau im Vergleich zum Ausbau anderer Energien marginal.
So habe das Land 2023 einen neuen Atomreaktor mit gut 1.000 Megawatt Leistung ans Netz genommen, aber gleichzeitig Solarkraftwerke mit mehr als 200.000 Megawatt. Die erneuerbaren Energien (ohne Wasserkraft) erzeugten dort inzwischen viermal so viel Strom wie die Kernkraft.
Laut dem Bericht sind derzeit weltweit 408 Reaktoren in Betrieb, einer mehr als im Vorjahr, aber 30 unter dem Höchststand von 2002. Die installierte Leistung aller Reaktoren zusammen liegt geringfügig über dem im bisherigen Rekordjahr 2006.
Im vergangenen Jahr wurden fünf AKW neu ans Netz genommen, neben China auch in der Slowakei, Südkorea, den USA und Weißrussland, während fünf Reaktoren abgeschaltet wurden, drei davon in Deutschland, das damit seinen Ausstieg abschloss.
"Harrisburg-Pläne zeugen von verzweifelter Lage der Atomindustrie"
Der Bericht zeigt auch, wie unterschiedlich die Entwicklung der Energieformen ist. So hat die installierte Solarstrom-Kapazität inzwischen fast das Fünffache der seit Jahren wegen zunehmender Stilllegung von Altreaktoren stagnierenden Kernenergie erreicht – wobei die Werte nicht direkt vergleichbar sind, da die Photovoltaik den Strom nicht kontinuierlich liefert.
Der Report hebt hervor, dass die Zukunft der Atomkraft stark davon abhängt, wie sich die Kosten für die Ökostrom-Speicherung entwickeln. So haben sich Batteriespeicher stark verbilligt, und laut Bericht wird erwartet, dass sie Grünstrom zum Beispiel in China bedarfsgerecht schon im kommenden Jahr billiger liefern können als neue Kohle- und Atomkraftwerke.
"Die wettbewerbsfähigen Kosten", schreiben Schneider und seine Mitautoren, "könnten sich in den kommenden Jahren als entscheidender Faktor für die Energiepolitik erweisen." Auch laut einem Report der Internationalen Energieagentur IEA soll "Solar plus Speicher" ab 2030 weltweit in allen Marktsegmenten konkurrenzfähig sein.
Schneider sieht denn auch in dem Plan, das AKW Harrisburg wieder in Betrieb zu nehmen, kein Anzeichen für eine Atomrenaissance. "Eine Maschine, die in den 1960er Jahren entwickelt wurde, wieder ans Netz nehmen zu wollen, zeugt von der verzweifelten Situation der Atomindustrie, die alle neuen technischen Entwicklungen verpasst hat", sagte er gegenüber Klimareporter°.
Das Durchschnittsalter der US-Atomflotte liege inzwischen bei 43 Jahren, und kein Stromunternehmen sei an einem Neubau ernsthaft interessiert. Auch in Harrisburg sei noch offen, ob der Reaktor tatsächlich wieder angestellt wird. Die technischen Herausforderungen seien immens, die Kosten sehr hoch, zudem habe die Atomaufsicht noch ein Wörtchen mitzureden.
"So lässt sich die Microsoft-Entscheidung für den Harrisburg-Strom eher einordnen als Kniefall vor den anderweitigen atomaren Plänen ihres Gründers Bill Gates", meinte Schneider. Der Milliardär Gates ist Atomkraft-Fan und Finanzier von Terrapower, einer Firma, die Mini-AKW bauen will.