Vor einem Jahr hat Bill Gates für die Zeitschrift Technology Review Orakel gespielt. Der Software-Pionier, Milliardär und Stiftungsgründer benannte die seiner Meinung nach zehn wichtigsten Technologien, die das Leben der Menschheit in der Zukunft positiv beeinflussen werden.
Unter denen war – neben dem kuhfreien Hamburger, dem EKG am Handgelenk und individuellen Krebsimpfstoffen – auch die Atomkraft. Deren Ausbau könne dazu beitragen, den Klimawandel zu beherrschen und die Energieprobleme in der Welt zu lösen, argumentierte der Milliardär.
Allerdings hat er dabei nicht die herkömmlichen großen Reaktoren im Blick, sondern eine ganz neue Generation von Anlagen ohne GAU-Gefahr, die zudem sogar vorhandenen Atommüll zumindest "entschärfen" können sollen.
Gates spielte bei dem Thema allerdings nicht nur Orakel. Bereits 2006 gründete er in den USA das Unternehmen Terra Power, das neuartige Reaktortechnologien entwickelt und vom US-Energieministerium mitfinanziert wird.
Vor Kurzem kündigte die Firma an, im US-Bundesstaat Washington ein neues Forschungszentrum mit 100 Mitarbeitern zu bauen, in dem es neben dem neuen AKW-Typ auch um medizinische Anwendungen der Nukleartechnik gehen soll.
Der Microsoft-Gründer ist offenbar sogar bereit, richtig viel Geld dafür locker zu machen. Rund 500 Millionen US-Dollar soll er bereits in das Projekt investiert haben, heißt es.
Gates schwimmt damit, buchstäblich, gegen den Strom. Denn die Atomkraft hat ihren Zenit überschritten.
Ihr Anteil an der weltweiten Elektrizitätsproduktion ist vom Spitzenwert 17,5 Prozent anno 1996 auf elf Prozent zurückgegangen. Neue Reaktoren sind inzwischen so teuer, dass sie in Ländern mit offenen Strommärkten nur noch mit extrem hohen Subventionen in den Markt gedrückt werden können.
Selbst das globale Atomland Nummer eins, Frankreich, verzichtet nach dem Zwölf-Milliarden-Euro-Fiasko beim Bau des neuen Druckwasser-Reaktors EPR in Flamanville zumindest vorerst auf neue AKW.
Vor allem Länder wie China und Russland, in denen der Energiemarkt staatlich gelenkt ist, bauen weiterhin auf Atomkraft.
Reaktoren der vierten Generation
Doch auch im Westen gibt es weiterhin Atomfans. Gates und Terra Power sind nicht die Einzigen, die die Zeit der Kernspaltung noch nicht ablaufen sehen.
Nuscale zum Beispiel, ein Unternehmen aus dem US-Bundesstaat Oregon, arbeitet an modularen Kleinreaktoren. Andere amerikanische Start-ups wie Commonwealth Fusion Systems und TAE Technologies wagen sich sogar an Kernfusionsreaktoren heran.
Und selbst in Umweltschützer-Kreisen, in denen Atomkraft eigentlich unten durch ist, gibt es Diskussionen.
Am meisten Aufsehen erregte hier die Klima-Ikone Greta Thunberg, die einmal auf Facebook schrieb, die Kernenergie könne "ein kleiner Teil einer sehr großen neuen CO2-freien Energielösung" sein. Später ruderte sie indes zurück, sie habe nur aus einem Report des Weltklimarats IPCC zitiert. Sie selbst, Thunberg, sei gegen die Atomkraft, betonte sie.
Die Gates-Firma setzt auf Reaktoren der sogenannten vierten Generation und hofft damit, die Schwachstellen der bisherigen Anlagen ausmerzen zu können.
Als erste Generation gelten die ersten Versuchsreaktoren, die ab den 1950er Jahren gebaut wurden. Bei der zweiten Generation handelt es sich zumeist um Druckwasser- und Siedewasserreaktoren, wie sie heute weltweit zur Stromerzeugung in Betrieb sind.
Die dritte baut darauf auf, ist aber sicherheitstechnisch verbessert und entsprechend teuer – so wie die beiden im Bau befindlichen EPR in Flamanville sowie im finnischen Olkiluoto.
Die vierte Generation hingegen basiert auf ganz anderen Konzepten. Terra Power arbeitet an zwei Typen, dem Flüssigsalz- sowie dem Laufwellenreaktor. Die Konzepte dazu sind ebenfalls bereits vor Jahrzehnten entwickelt worden, sie setzten sich jedoch gegen die Druck- und Siedewasserreaktoren nicht durch.
Der Flüssigsalzreaktor arbeitet mit einer flüssigen Salz-Brennstoff-Mischung, die im Reaktor selbst zirkuliert. Herkömmliche Reaktoren lassen die Kernspaltung in Brennstäben ablaufen und transportieren die dabei entstehende Wärme mit unter enorm hohem Druck stehendem Wasser ab.
Das Salz-Konzept hat Vorteile. So kann der Brennstoff bei laufendem Betrieb "nachgetankt" werden. Zudem kann der Reaktor, zumindest in der Theorie, nicht nur, wie heute üblich, mit angereichertem Uran betrieben werden, sondern auch mit hoch radioaktivem Atommüll.
Ein Großteil des abgebrannten Brennstoffs, der heute endgelagert werden muss, könne so erneut genutzt werden, argumentieren die Befürworter der Technologie. Übrig bliebe Atomabfall mit relativ kurzen Halbwertszeiten, der vergleichsweise einfacher zu entsorgen sei.
Weiteres Argument: Die Sicherheit des Reaktors soll hoch sein. Gemäß dem Konzept soll bei einer drohenden Überhitzung das Flüssigsalz in dafür vorgesehene Auffangbehälter fließen, in denen die Kettenreaktion automatisch gestoppt wird.
Ungelöste Sicherheitsprobleme
Beim Laufwellenreaktor ist die Kernspaltung auf eine bestimmte Zone konzentriert, die langsam durch den Reaktor wandert. Es handelt sich um einen "Brutreaktor", der aus Uran ständig neuen Brennstoff erzeugt und dadurch zumindest theoretisch jahrzehntelang ohne "Nachladen" laufen kann.
Laut dem Konzept soll es möglich sein, den Laufwellenreaktor mit verschiedenen Brennstoffen zu betreiben – mit abgebrannten Brennelementen aus Leichtwasserreaktoren, mit Roh- oder abgereichertem Uran oder mit Thorium.
Der Reaktor "erbrütet" beim Betrieb Plutonium und verbraucht es auch wieder, wodurch auf eine Wiederaufarbeitung des Atommülls verzichtet werden kann. Die stark radioaktiven Reststoffe sind in weniger Brennstoff konzentriert, wodurch die Menge an zu entsorgendem Material kleiner wird.
Allerdings: Beide Reaktorkonzepte haben auch Nachteile, die zum Teil technisch schwer zu beherrschen sind. Beim Flüssigsalzreaktor zum Beispiel sind extrem beständige Materialien nötig, weil das Salz gerade bei den hohen Temperaturen stark korrosiv wirkt.
Zudem ist das Abtrennen der radioaktiven Spaltprodukte aus dem Salz großtechnisch noch nicht gelöst. Weiter ist in der Fachwelt umstritten, ob wirklich alle kritischen Unfallverläufe beherrscht werden können.
Der Laufwellenreaktor wiederum muss mit flüssigem Natrium gekühlt werden, einem chemischen Element, das beim Kontakt mit Luft oder Wasser sehr heftig reagiert – ebenfalls ein Sicherheitsproblem. Wie bei herkömmlichen Reaktoren ist eine – wenn auch langsamer ablaufende – Kernschmelze nicht ausgeschlossen, falls die Kühlung ausfällt.
Die Gates-Firma schien trotzdem durchzustarten. Rund zehn Jahre nach dem Start von Terra Power sah es so aus, als könne die Machbarkeit der Reaktorkonzepte in der Praxis getestet werden – in China.
2017 unterzeichnete das Unternehmen eine Vereinbarung mit der China National Nuclear Corporation über den Bau eines Prototyps von immerhin 600 Megawatt, etwa der Hälfte der Leistung der heute üblichen Druckwasser-Reaktoren. Er sollte bis 2025 in der Provinz Fujian entstehen.
Doch der von der Trump-Regierung begonnene Handelskrieg mit China torpedierte den Deal 2018. Washington gab als Ziel aus, China den Zugriff auf US-Atomtechnologie zu verweigern, wenn diese auch für militärische Zwecke genutzt werden könne. Damit war das Geschäft praktisch tot.
"Erneuerbare sind schneller und günstiger"
Terra Power sucht seither nach einem neuen Investor. "Wir orientieren uns neu", sagte sein Chef Chris Levesque Anfang 2019, "vielleicht finden wir einen neuen Partner". Infrage kommen nach Ansicht von Energieexperten Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien oder die Türkei.
Gates selbst schrieb auf seiner Website, er hoffe, dass der Test-Reaktor vielleicht doch in den USA gebaut werden könne, allerdings nur, wenn die Regierung die entsprechenden Vorschriften ändere. "Die Welt muss an vielen Lösungen zur Beherrschung des Klimawandels arbeiten. Nukleartechnik ist eine davon. Ich hoffe, die US-Führer davon zu überzeugen, dabei mitzumachen."
Dass es wirklich so weit kommt, ist fraglich. Viele Energie-Fachleute haben Zweifel, ob Gates' Wunder-Reaktoren überhaupt schnell genug als kommerzielle Anlagen zur Verfügung stehen und dann den Strom auch preiswert genug produzieren können, um als Mittel gegen den Klimawandel einsetzbar zu sein.
Denn vom Konzept über den Prototyp bis zu den ersten Leistungsreaktoren ist es ein langer Weg. Der Kernkraft-Experte Christoph Pistner vom Öko-Institut in Darmstadt: "Es wird mindestens zwei Jahrzehnte dauern, bis sie ans Netz gehen könnten."
Zudem hat er große Zweifel, dass die Stromerzeugungskosten mit denen der Solarenergie konkurrieren können, die inzwischen extrem billig geworden ist.
Das Problem: Wenn der Klimawandel beherrschbar blieben soll, müssen die Emissionen weltweit spätestens 2040 oder 2050 praktisch bei null liegen.
"Das ist mit Energieeffizienz und erneuerbaren Energien, die schnell installiert werden können, zu schaffen", meint Pistner. "Für die Atomkraft sehe ich diese Rolle nicht."
Lesehinweis: Atomkraft nützt dem Klima nichts (Advertorial/Sponsored Link)