Roda Verheyen vor dem Brandenburger Tor.
Rechtsanwältin Roda Verheyen. (Foto: Chris Grodotzki/​Greenpeace)

Klimareporter°: Frau Verheyen, Sie sind bekannt als kämpferische Anwältin, die inzwischen drei wegweisende Klimaklagen vertritt. Die jüngste ist die Klage von Greenpeace und drei betroffenen Familien gegen die Bundesregierung wegen der Nichteinhaltung des Klimaziels für 2020. Was wollen Sie damit erreichen?

Roda Verheyen: Meine Mandanten wollen vorrangig und auch ausschließlich effektiveren und schnelleren Klimaschutz. Wir wollen einfach, dass das, was seit 2007 versprochen wurde, auch eingehalten wird. Die Klimawissenschaft zeigt ja auf, dass wir es uns nicht leisten können, plötzlich Klimaziele aufzugeben. Und wir machen das deutlich an den ganz persönlichen Betroffenheiten meiner Mandanten im Hinblick auf ihre landwirtschaftlichen Betriebe.

Hat die Bundesregierung wirklich offiziell das 2020er Klimaziel aufgegeben?

Aus meiner Sicht hat die Bundesregierung das Handeln eingestellt, um dieses Klimaziel zu erreichen. Der Handlungsauftrag für die Kohlekommission war ja, die Lücke so weit wie möglich zu reduzieren. Aber natürlich hat die Bundesregierung immer die Möglichkeit gehabt nachzusteuern, also Maßnahmen zu veranlassen, um das Ziel zu erreichen.

Das hat sie ausdrücklich unterlassen. Deshalb sage ich: Das Klimaziel für 2020 ist zwar noch da, aber es wird nicht umgesetzt. Entsprechend erheben wir ja auch eine Klage auf Vollzug.

Und deswegen reichen Sie die Klage beim Verwaltungsgericht Berlin ein und nicht beim Verfassungsgericht?

Ja, genau.

Es gibt ja auch eine von dem Umweltverband BUND und vom Solarenergie-Förderverein eingereichte Verfassungsbeschwerde. Was ist der Unterschied zu Ihrer Klage?

Die Verfassungsbeschwerde argumentiert im Grunde, dass bei so einem wichtigen Thema wie dem Klimaschutz ein Parlamentsgesetz erforderlich ist. Dieser Rechtsauffassung kann man durchaus zuneigen. Aus den Grundrechten ergibt sich die Notwendigkeit, dass der Gesetzgeber selber den Schutz seiner Bürger und der natürlichen Umwelt veranlasst.

In Deutschland gibt es kein Gesetz, das diesen allgemeinen Anspruch erfüllt. Aber es gibt fortlaufende Klimaschutzpläne, die – und das ist eben Grundstein der Klage – dann auch verbindlich sein müssen. Man kann eben nicht auf der einen Seite sagen, wir machen kein Gesetz, wir machen es nur durch Pläne – aber die Pläne sind dann nicht verbindlich.

Zur Person

Bevor Roda Verheyen 2006 als Rechtsanwältin zu arbeiten begann, entwarf sie für Umweltverbände Klimakampagnen, etwa für Friends of the Earth International und Germanwatch. 2002 gehörte sie zu den Mitbegründern des Netzwerks Climate Justice Programme. 2005 promovierte sie im Völkerrecht und Klimaschutzrecht. Seither hat sich die Hamburgerin einen Namen als eine der aktivsten Rechtsvertretungen für Klimaklagen gemacht.

Also wenn es keine Pläne gäbe, dann müsste es aber ein Gesetz geben?

Im Grunde ja. Sodass also die Klage des BUND und anderer, die vor das Verfassungsgericht gezogen sind, im Grunde größere Erfolgsaussichten hätte, wenn wir verlieren, und umgekehrt. Das bedeutet also, wir greifen unterscheidliche Rechtsgrundsätze auf, gehen zu unterschiedlichen Stellen. Im Sachverhalt und in der Argumentation sind wir uns aber einig.

Insofern bin ich nicht traurig, dass diese Verfassungsbeschwerde anhängig gemacht worden ist, im Gegenteil. Ich kann das sehr gut nachvollziehen, habe mich aber aufgrund der Erfolgsaussichten einfach dagegen entschieden. Nur ein ganz geringer Teil, weniger als ein Prozent der Verfassungsbeschwerden wird zugelassen, und man hat keine Interaktion.

Dass die Politik nicht einhält, was sie verspricht, kommt oft vor. Wie ungewöhnlich ist, dass es dann eingeklagt wird?

Die juristische Herleitung der Klage liegt letztlich im Vertrauensschutzgedanken. Wenn ein Teil der Exekutive – das ist die Bundesregierung – etwas sagt, und zwar über lange Zeit, und auch dementsprechend handelt, dann bindet sie sich selbst.

Die deutsche Öffentlichkeit kennt das aus den deutschen Luftreinhalteurteilen inzwischen sehr gut: Wir haben einen Plan, der ist einzuhalten. Wenn er nicht eingehalten wird, sollen Maßnahmen ergriffen werden.

Letztlich gehts hier um nichts anderes. Der einzige Unterschied ist, dass es bei den Luftreinhalteplänen eine Norm im europäischen Recht gibt, die direkt vollzogen wird, während wir hier die Norm aus dem Plan selber nehmen.

Gilt das Pariser Klimaschutzabkommen nicht auch als Norm?

Das Klimaschutzabkommen ist eine europarechtliche Norm, die auch hier Geltung hat. Das Problem ist aber, dass dort nicht drinsteht, welches Land wie viel CO2-Reduktion zu erreichen hat. Das Abkommen setzt allerdings Temperaturziele und aus denen ergeben sich absolute Treibhausgas-Budgets für die Welt. Daraus wiederum kann man auch eins für Deutschland ableiten.

Das ist eben Gegenstand der Klimaklage gegen die Bundesregierung – eine Regierung, die ja auch nach außen vertritt, es sei nicht so wichtig, ob man das Ziel 2020, 2025 oder wann auch immer erreicht. Das Gegenteil ist der Fall, weil wir selbstverständlich jedes Jahr überemittieren und damit unser Budget sehr viel schneller erschöpfen, als wir es eigentlich dürften. Insofern haben wir in der Klage auch zwei Anträge.

Worum geht es da?

Der eine Antrag bezieht sich nur auf das 2020-Ziel an sich. Der andere allerdings bezieht sich auf die Überemissionen. In den vergangenen Jahren haben wir wirklich deutlich zu viel emittiert, gemessen am eigentlich vorhandenen Budget, und deswegen beantragen meine Mandanten auch, dass diese Tonnen CO2 zusätzlich eingespart werden.

Denn es macht keinen Sinn, über Klimaschutzziele in irgendeinem Zeitraum zu sprechen. Wir müssen über absolute Emissionsmengen sprechen, ansonsten erreichen wir keinen Schutz für meine Mandanten und letztlich auch nicht für das Klima und jeden Inselbewohner im Pazifik.

Wie ist die öffentliche Resonanz auf Ihre Klage?

Wir bekommen sehr viel Zuspruch, sogar von Unternehmen. Es gibt Unternehmen, die sagen mir: Wieso sprechen wir seit zehn Jahren über Klimaschutzziele und plötzlich sind sie nicht mehr da, das ist doch total willkürlich? Und warum mussten wir 2016 Braunkohlekraftwerke stilllegen und plötzlich zählt das alles nicht mehr?

Und letztlich sind genau diese Aspekte auch der Grund dafür, warum ich der Auffassung bin, dass das Klimaziel mit dem entsprechenden Programm eben verbindlich geworden ist.

Wie in der Klageschrift steht, hat ein Gericht in Den Haag festgestellt, dass der Klimawandel auch Menschenrechte einschränkt. In diesem Urteil wurde die niederländische Regierung dazu verpflichtet, mehr für den Klimaschutz zu tun. Gibt Ihnen das Urteil Rückenwind?

Ja, allerdings ist das natürlich eine andere Jurisdiktion und Konstellation. Aber selbst wenn es kein formeller Präzendenzfall für das Verwaltungsgericht in Deutschland ist, ist die Tatsache relevant für mich, dass inzwischen mehrere Gerichte weltweit sagen: Ja, es gibt den Klimawandel, und ja, es gibt ein Schutzrecht, und jetzt gibt es ausdrücklich auch noch diese Menschenrechtsbetroffenheit.

Es ist zum Beispiel interessant zu sehen, dass in einem Verfahren in Irland gerade der UN-Hochkommissar für Menschenrechte seine Stellungnahme abgegeben hat, in der ebenfalls ganz klar drinsteht: Natürlich ist der Klimawandel und ist der Schutzanspruch gegen die Folgen des Klimawandels ein menschenrechtliches Problem und jedes Land hat seine eigene Schutzpflicht.

Hier sagt der Hochkommissar ganz eindeutig: Jedes Land muss wissen, ich muss meine Emissionen reduzieren, ich komme nicht drumherum, nur weil mein Nachbar es nicht tut.

Die beiden Politiker beglückwünschen sich lächelnd.
Häufiges Bild in den letzten Jahren: EU-Klimakommissar Miguel Arias Cañete (rechts) zeigt sich nach den Verhandlungen mit den Mitgliedsstaaten zufrieden – obwohl von seinen Vorschlägen für mehr Klimaschutz kaum etwas übrig blieb. Die Klimakläger wollen das nicht hinnehmen. (Foto: Europäische Union)

Außerdem sind die Ziele der EU-Staaten ja nicht ambitioniert genug. Welche Rolle spielt das?

Das ist Gegenstand der anderen Klage – des People's Climate Case, also der EU-Klage. Hier sagen meine Mandanten: Schön, dass ihr da seid, EU-Staaten, wir vertrauen euch, aber ihr tut einfach nicht genug, und zwar objektiv gesehen. Und da beziehen wir uns auf das Ziel für 2030.

Dort hat die EU in einem langen politischen Prozess das Ziel von 40 Prozent Reduktion angenommen – letztlich aus der Luft gegriffen und nicht in Übereinstimmung mit dem Pariser Klimaabkommen. Das Ziel ist ganz offensichtlich unzureichend. Das sagt inzwischen sogar das Europäische Parlament selbst.

Auch in der Klage geht es um die Tatsache, dass wir nicht über irgendwelche willkürlichen Zeitpunkte in der Zukunft sprechen, sondern immer über ein Emissions-Budget, und von dem entfällt auf uns eben ein bestimmter Anteil. Dass der neue Bericht des Weltklimarates IPCC zum 1,5-Grad-Ziel nochmal betont: Wir müssen vor 2030 viel stärker reduzieren – das bestätigt sowohl die EU-Klimaklage als auch jetzt meine deutsche Klimaklage eigentlich zu hundert Prozent.

Was heute emittiert wird, bleibt hundert Jahre in der Atmosphäre, da kann man sich drehen und wenden, wie man möchte. Die Frage, die sich dann für mich stellt, ist eher: Warum klagen wir erst jetzt? Und nicht: Warum klagen wir?

In welchem Stadium befinden Sie sich mit der europäischen Klimaklage?

Sowohl das EU-Parlament als auch der Ministerrat haben den Antrag gestellt, dass nur über die Zulässigkeit gesprochen wird, weil die Klage offensichtlich unzulässig sei. Dazu nehmen wir jetzt Stellung, und dann hat das Gericht zu entscheiden.

Welche Argumente haben Sie in der Stellungnahme vorgebracht? Was ist der springende Punkt?

Ich will hier betonen: Das ist eine Klage mit und für die EU, denn die Mandanten nehmen die EU als Gesetzgebungsorgan ernst. Die EU hat gesagt: Wir regeln den Klimaschutz, wir setzen das um, wir sind die Gesetzgeber.

Wenn das so ist, dann müssen Bürger in Europa auch die Möglichkeit haben, das gerichtlich überprüfen zu lassen. Diese Frage des Gerichtzugangs muss adäquat mit der Fortentwicklung der EU gelöst werden. Ich hoffe, dass wir jetzt einen kleinen Schritt dazu beitragen werden, indem wir zumindest das Gericht überzeugen können, dass die Klage nicht als unzulässig angewiesen wird.

Saúl Luciano Lliuya
Roda Verheyen vertritt auch Saúl Luciano Lliuya gegen RWE. Der Peruaner verklagte den Konzern, die Kosten für Klimafolgen in seiner Heimatstadt Huaraz anteilig zu tragen. Der Gletschersee Palcacocha droht die Stadt zu überfluten. (Foto: Germanwatch)

In der Hinsicht betreten Sie juristisches Neuland, genau wie in Ihrer ersten Klimaklage ...

Ja, dort hat eine Privatperson aus Peru das Unternehmen RWE verklagt – das ist völliges Neuland gewesen, und dennoch sind wir jetzt schon in der zweiten Instanz und haben mehrere Beschlüsse des Oberlandesgerichts Hamm bekommen, die im Grunde meine Rechtsauffassung komplett bestätigen: Es gibt eine individuelle Verantwortung von Großemittenten für die Folgen des Klimawandels. Noch vor vier Jahren hätte jeder gesagt: Das ist ja verrückt.

Wodurch kam der Sinneswandel?

Das Gericht war bereit und in der Lage, den Gesetzestext anzuschauen, den Kontext anzugucken, der grundsätzlichen Bedeutung der Klimawissenschaft ins Auge zu blicken und zu schlussfolgern: Ja, wenn ich sagen kann, da findet der Klimawandel statt, und wenn ich sagen kann, ein bestimmtes Unternehmen hat in einer nicht unerheblichen Art und Weise dazu beigetragen – wo soll dann die Kausalkette unterbrochen sein? Warum soll es da keine Verantwortlichkeit geben?

Was man nicht versucht, kann man auch nicht gewinnen, ist immer meine Auffassung dazu. Man kann den Menschen, die vom Klimawandel heute schon betroffen sind, nicht sagen: Das ist alles so schwierig, klagt mal lieber nicht. Denn worauf sollen denn diese Menschen hoffen? Weiterhin auf die Klimadiplomatie allein? Solange ich meinen Aufklärungspflichten als Anwältin gerecht werde und es auch nur geringe oder schlüssige Erfolgschancen gibt, bereitet mir das keine schlaflosen Nächte.

Wie ist der Stand der Dinge bei der Klage gegen RWE?

Ein Jahr nach dem Beweisbeschluss haben wir gerade erst mit der Beweiswürdigung anfangen. Wir sind einer Lösung im Einzelfall keinen Schritt weiter.

Die Lage ist ja die: Der Weltklimarat sagt, in den tropischen Anden schmelzen die Gletscher wegen des Klimawandels – und RWE sagt: Aber nicht dort in dem peruanischen Heimatort des Klägers. Und deswegen müssen wir wahrscheinlich Zehntausende Euro für Gutachter ausgeben.

Wie gehen die Gutachter vor?

Wir haben gestern einen neuen Beschluss erhalten: Wir sollen 100.000 Euro Vorschuss für die Sachverständigen einzahlen, weil eine Ortsbesichtigung in Peru und ein Hubschrauberüberflug notwendig sein sollen, um die Beweisfrage zu beantworten. Dagegen werden wir vorgehen.

Das heißt also, Sie müssen beweisen, dass es so ist.

Ja, das ist ja immer so im Zivilprozess, die Beweislast liegt bei uns.

Könnte man nicht dahin kommen, dass die Beweislast bei den Verursachern liegt?

Das habe ich vorgeschlagen, aber dazu hat sich das Gericht leider noch nicht geäußert. Ich habe vorgetragen: Wenn der IPCC-Bericht eine Aussage macht, gilt diese erstmal – der sogenannte Prima-facie-Beweis mit der entsprechenden Beweislastumkehr. Wir werden sehen.

Meinem peruanischen Mandanten geht es auch nicht darum, irgendjemanden schuldig zu sprechen. Er ist eine lateinamerikanische Seele und hat eine enge Verknüpfung mit der Natur und mit dem Gletscher, und ihm geht es darum, dass sein Problem gelöst wird und nicht, dass irgendjemand schlecht in den Medien dasteht. Er möchte, dass der Klimawandel gestoppt wird, am besten morgen.

Welche persönliche Motivation steckt hinter Ihrem Engagement als Klimaanwältin?

Ich beschäftige mich inzwischen seit bald 30 Jahren mit dem Klimawandel und sehe, wie die Wissenschaft jedes Jahr neue Ergebnisse veröffentlicht, die immer dramatischer ausfallen, und dass dennoch die Antwort von Politik und Gesetzgebung absolut inadäquat bleibt. Ich habe selber drei Kinder.

Wir haben so ein großes Defizit zwischen der Wissenschaft, die uns sagt, was gemacht werden muss, und den Antworten aus Regierungen und Gesetzgebung. In der Gewaltenteilung sind dann eben die Gerichte diejenigen, die möglicherweise aktiviert werden müssen, um objektivierend einzuwirken.

Ich hoffe, dass wir die nächsten zehn Jahre nutzen, denn wenn wir das nicht tun, dann ... dann weiß keiner, was geschieht.

Ist das der Grund, warum Sie diesen beruflichen Weg eingeschlagen haben?

Unter anderem. Ich war früher selbst in Nichtregierungsorganisationen tätig und habe vor allem deshalb Jura studiert, um Umweltrecht machen zu können. Man ist auch als Jurist nie wirklich unabhängig – jeder Jurist, der tätig ist, hat seine eigenen Gedanken. Ich würde sagen, ich habe einfach Glück, dass ich im Wesentlichen meinen eigenen Überzeugungen gerecht werden darf in meiner beruflichen Tätigkeit.

Ich finde, dass die Klimakläger – sei es mein peruanischer Mandant oder auch alle anderen – sehr mutig sind, und ich finde, das ist viel bemerkenswerter als das, was ich tue. Denn bei mir ist es ja der Beruf. Ich mache das jeden Tag, schreibe jeden Tag komplizierte Dinge auf, gebe Interviews – aber für diese Menschen ist das wirklich ein riesiger Schritt, und ich finde es großartig, dass sie ihn gegangen sind.