Klimareporter°: Frau Shen, mit einer Rohstahlproduktion von über einer Milliarde Tonnen im Jahr 2023 sind chinesische Unternehmen für mehr als die Hälfte der globalen Stahlherstellung verantwortlich. Wohin gehen diese Mengen?

Shen Xinyi: Der Höchststand der Produktion lag im Jahr 2020 bei 1,05 Milliarden Tonnen, seitdem ist der Inlandsverbrauch um etwa zehn Prozent zurückgegangen. Noch vor vier Jahren hat allein der Immobiliensektor 400 Millionen Tonnen Stahl verbraucht. Seit die chinesische Regierung Maßnahmen ergriffen hat, um den überhitzten Immobilienmarkt einzudämmen, ist die Stahlnachfrage hier im letzten Jahr auf rund 270 Millionen Tonnen gesunken.

Dagegen ist die Nachfrage des Infrastruktursektors im selben Zeitraum von 150 Millionen auf rund 230 Millionen Tonnen gestiegen. Gleich geblieben ist der Anteil der industriellen Produktion – etwa von Autos und anderen Gütern: Sie beansprucht mit 400 Millionen Tonnen rund 40 Prozent der inländischen Nachfrage.

Weil die Inlandsnachfrage insgesamt gesunken ist, sind Chinas Stahlexporte etwas gestiegen, obwohl die chinesische Regierung versucht, den Export von primären Stahlprodukten durch höhere Exportzölle und andere Maßnahmen zu begrenzen. 2023 wurden etwa neun Prozent der gesamten Stahlproduktion exportiert. In diesem Jahr haben die USA und Kanada die Importzölle auf chinesischen Stahl auf 25 Prozent erhöht.

Wie wird Stahl in China produziert – und mit welchen CO2-Emissionen geht das einher?

90 Prozent der Stahlproduktion entstehen im Hochofen-Konverter-Verfahren, das heißt, Stahl wird aus Eisenerz und unter Einsatz von Kohle produziert. Nur zehn Prozent werden aus recyceltem Stahlschrott in Elektrolichtbogenöfen hergestellt. Die CO2-Emissionen pro Tonne Stahl im Hochofen-Verfahren sind dreimal so hoch wie bei dem elektrischen Verfahren.

Im Hochofen werden Temperaturen bis zu 2.000 Grad erzeugt, indem Koks verbrannt wird. (Bild: ABCD Stock/​Shutterstock)

Der Anteil von Stahl aus Lichtbogenöfen in China liegt deutlich unter dem weltweiten Durchschnitt von etwa 30 Prozent und weit hinter den USA mit fast 70 Prozent. Ein großes Hindernis für die Dekarbonisierung des chinesischen Stahlsektors ist, dass kohlebetriebene Hochofen-Konverter wirtschaftlich günstiger sind als Lichtbogenöfen.

Wie wir in unserem neuen Bericht darlegen, wurden allerdings in der ersten Hälfte dieses Jahres in China keine neuen kohlebasierten Stahlprojekte mehr genehmigt. Das markiert einen wichtigen Wendepunkt.

In den vergangenen Jahren hatte China weiterhin stark in kohlebasierte Stahlkapazitäten investiert. Doch im ersten Halbjahr 2024 wurden nur noch Schrott-basierte Lichtbogenofen-Projekte genehmigt – ein bedeutender Schritt seit der Ankündigung des chinesischen Dekarbonisierungs-Doppelziels vor vier Jahren. Durch die Schrumpfung des Bausektors bei gleichzeitigem Anstieg der Lichtbogen-Stahlproduktion werden für die nächsten zehn Jahre erhebliche Emissionsminderungen erwartet.

Woher bezieht China die wichtigsten Rohstoffe für seine Stahlproduktion – also Eisenerz und Kohle?

Als weltweit größter Stahlproduzent ist China auch der weltgrößte Importeur von Eisenerz. Fast 80 Prozent des in China verarbeiteten Eisenerzes wurden in den letzten Jahren importiert. 2023 erreichten die Einfuhren hier ein Rekordhoch von fast 1,2 Milliarden Tonnen.

Bei der Kohle ist China mit seinen großen heimischen Reserven weniger auf Importe angewiesen als beim Eisenerz. 2023 führte China 102 Millionen Tonnen Kokskohle ein, wie sie für die Stahlproduktion verwendet wird, hauptsächlich aus der Mongolei und Russland. Das ist ein Anstieg von fast 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Trotzdem macht diese importierte Kohle nur 17 Prozent der Nachfrage im Land aus.

Es gibt verschiedene Strategien, die negativen Klimafolgen der Stahlproduktion zu reduzieren, ob nun durch "grünen Stahl" mit Wasserstoff oder, noch wichtiger, eine Senkung des Verbrauchs. Worauf legt die chinesische Regierung den Schwerpunkt?

Die aktualisierte Dekarbonisierungsstrategie des chinesischen Stahlbranchenverbandes sieht mehrere Maßnahmen vor: Steigerung der Energieeffizienz, Materialrecycling, technologische Durchbrüche sowie CO2-Abscheidung, -nutzung und -speicherung. Damit soll der CO2-Ausstoß bis 2030 um 15 Prozent im Vergleich zu 2020 sinken, um 40 Prozent bis 2040 und um 85 Prozent bis 2050, mit dem Ziel der CO2-Neutralität 2060.

Bild: Crea

Shen Xinyi

leitet das China-Team des Centre for Research on Energy and Clean Air (Crea), einer un­ab­hängigen Forschungs­organisation mit Sitz in Helsinki. Sie arbeitet derzeit vor allem zu industrieller Dekarbonisierung. In Briefings analysierte sie die Entwicklungen in Chinas Stahl­sektor. Shen Xinyi studierte Umwelt­wissen­schaften an der Zhejiang-Universität und der Chinesischen Akademie der Wissen­schaften.

Kurz- bis mittelfristig bietet die verstärkte Nutzung von Elektrolichtbogenöfen, die recycelten Stahlschrott verarbeiten, eine Möglichkeit zur Dekarbonisierung der Stahlproduktion. Damit ließen sich schon innerhalb des nächsten Jahrzehnts erhebliche Emissionsminderungen erzielen.

Mittelfristig bietet die Wasserstoffanreicherung in Hochöfen eine Übergangstechnologie, um die CO2-Emissionen um 20 bis 30 Prozent zu senken, während die bestehende Infrastruktur genutzt wird. Diese Technologie könnte ab 2026 wirtschaftlich tragfähig sein.

Langfristig könnte die Direktreduktion mit Wasserstoff eine fast vollständige Dekarbonisierung ermöglichen, mit Emissionsminderungen um bis zu 90 Prozent. Diese Technologie erfordert jedoch eine ausreichende und bezahlbare Versorgung mit grünem Wasserstoff, bevor sie in großem Maßstab eingesetzt werden kann.

Welche Maßnahmen werden zur Unterstützung des Recyclings, also der Nutzung von Stahlschrott, ergriffen?

Chinas Stahlschrottverbrauch lag 2022 und 2023 bei jeweils etwa 250 Millionen Tonnen. Nach Branchenangaben wird das Angebot bis 2025 auf mehr als 300 Millionen Tonnen steigen und bis 2030 auf 350 bis 380 Millionen Tonnen.

Da die Stahlnachfrage in China bald ihren Höhepunkt überschreitet und mehr Schrott verfügbar wird, liegt hier großes Potenzial, um die kohlebetriebene Stahlproduktion zu reduzieren. 2030 könnte die Hälfte der Stahlerzeugung durch Schrott gedeckt werden, was eine erhebliche Emissionsminderung in den nächsten zehn Jahren ermöglicht.

Chinas Klima- und Umweltpolitik

China ist der größte Treibhausgasemittent der Welt, treibt aber auch den Ausbau der erneuerbaren Energien am schnellsten voran. Die Volksrepublik ist bei vielen "grünen" Technologien führend – und hat eine Schlüsselrolle bei der Weiterverarbeitung von Rohstoffen wie Kobalt und Lithium. Während China in der internationalen Klimapolitik eine prominente Position innehat, kommt es im Land immer wieder zu Protesten gegen Umweltverschmutzung. Die Serie wirft ein Auge auf Akteure und Debatten, Gesetze und Industrien in China.

Im März dieses Jahres initiierte die Zentralregierung einen Aktionsplan, um durch die Erneuerung von Großgeräten und den Austausch von Haushaltsausstattung Investitionen und den Konsum anzukurbeln. Der Plan sieht vor, das Recycling von Altfahrzeugen bis 2027 zu verdoppeln. Im selben Zeitraum soll das Recycling von Haushaltsgeräten um 30 Prozent zunehmen.

Zur Unterstützung des Plans wurden steuerliche und finanzielle Maßnahmen ergriffen, zum Beispiel um Schrottrecycling und auch den Ankauf bei informellen Schrotthändlern zu fördern. Das ermöglicht es den Recyclingunternehmen, bessere Preise für Schrott anzubieten.

Außerdem wurde eine Subvention für Zinsen auf Erneuerungskredite eingeführt, bei der die Zentralregierung maximal ein Prozent des Kreditbetrags für bis zu zwei Jahre übernimmt, was die Modernisierung von Recyclinganlagen beschleunigen und mehr Schrott verfügbar machen könnte.

Welche Rolle spielen die "Klimazölle" der EU und wie steht es um die Bemühungen, den Stahlsektor in Chinas nationales Emissionshandelssystem einzubeziehen?

Der CO2-Grenzausgleichsmechanismus CBAM der Europäischen Union hat die Bemühungen zur Dekarbonisierung des chinesischen Stahlsektors verstärkt, um internationale Standards zu erfüllen.

Mit der Einführung der CO2-Abgabe will die EU dem Problem des "Carbon Leakage" begegnen, bei dem Unternehmen ihre Produktion in Regionen mit weniger strengen Emissionsvorschriften verlagern, um höhere Kosten zu vermeiden. 2026 soll die Maßnahme in Kraft treten. Laut dem chinesischen Stahlbranchenverband könnten die Exporte nach Europa dadurch um vier bis sechs Prozent teurer werden.

Als Reaktion auf diese möglichen Kostensteigerungen beschleunigt der Stahlsektor seine Dekarbonisierungsmaßnahmen und verbessert seine CO2-Bilanzierung. Trotz der Kritik von chinesischen Interessenvertretern hat der CBAM dazu beigetragen, die CO2-Bilanzierung im Stahlsektor zu verbessern. Die Regierung hat ihre Pläne konkretisiert, das nationale Emissionshandelssystem Ende 2024 auf den Stahlsektor auszuweiten.

 

Chinas Emissionshandel, der 2021 den Betrieb aufgenommen hat, umfasst bisher nur den Stromsektor, der jährlich fast fünf Milliarden Tonnen CO2-Emissionen verursacht – etwa 45 Prozent der chinesischen und 15 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Damit ist es das größte Emissionshandelssystem der Welt.

Obwohl es eine wichtige Rolle auf Chinas Weg zur CO2-Neutralität spielen könnte, hat es bisher nur geringe Auswirkungen auf die Emissionen. Das liegt an einer großzügigen Vergabe von Emissionszertifikaten und dem Fehlen eines strengen Emissionslimits.

Derzeit konzentrieren sich die Regulierungsbehörden eher auf die Verbesserung der Datenerhebung und das Einbinden der betroffenen Unternehmen in das System als auf eine tatsächliche Reduzierung der Emissionen. In Zukunft werden die Entscheidungen über die Gestaltung und Umsetzung des Emissionshandelssystems ausschlaggebend sein, um Chinas CO2-Ausstoß wirksam zu senken.