Das klingt doch ambitioniert. Die Europäische Union will den Treibhausgas-Ausstoß bis 2040 um 90 Prozent gegenüber dem Basisjahr 1990 senken, um dann bis Mitte des Jahrhunderts "klimaneutral" zu werden. Die EU-Kommission hat dieses Zwischenziel, das bereits in etwa anderthalb Jahrzehnten erreicht werden soll, jetzt vorgeschlagen.
Doch was sich gut anhört – 90 ist doch irgendwie nah dran an 100 –, ist es nicht wirklich. Denn erstens wäre mehr Ehrgeiz mit Blick auf die sich zuspitzende Klimakrise angezeigt gewesen, und zweitens gibt es große Schlupflöcher, die sich im Kleingedruckten verbergen. Und die sind ein echtes Problem.
Allerdings muss man auch als kritischer Beobachter zuerst ein Lob aussprechen. Die EU ist unter den wichtigen politischen Blöcken mit ihrem Klimaplan eine Vorreiterin. Das gilt auch jetzt wieder.
Der Staatenbund hatte sich bereits 2019 als erster Großeinheizer des Planeten mit seinem "Green Deal" am 1,5-Grad-Pfad des Pariser Klimaabkommens orientiert und eine "Netto-Null" bei den Emissionen für 2050 angepeilt, deutlich vor den USA, die erst später zu diesem Club stießen, und ganz weit vor China, das erst 2060 ins Auge gefasst hat.
Und so ist auch der Ansatz, frühzeitig ein konkretes Zwischenziel für 2040 aufzustellen und entsprechende Maßnahmen zu entwerfen, durchaus löblich. Denn ohne solche Leitplanken droht das Fernziel allzu leicht verpasst zu werden. Bislang gibt es in der EU nur eine konkrete Festlegung für 2030, minus 55 Prozent bei den CO2-Emissionen.
Die Schlupflöcher haben praktische Folgen
Respekt also dafür, dass von der Leyen und Co die neue Vorgabe trotz des perfekten Sturms, gebildet aus den Nachwehen der Ukraine-Energiekrise, galoppierender Inflation, politischem Rechtsruck und Bauernprotest, überhaupt noch fristgerecht vorlegten.
Viele Menschen in der EU haben derzeit andere Sorgen als das Klima, auch wenn das kurzsichtig erscheint. Das muss man nüchtern feststellen. Und das ist die Folie, auf der man die Brüsseler 2040-Vorgabe betrachten muss.
Trotzdem: Rein sachlich betrachtet bleiben Fehlstellen. So hätte die Kommission bei der CO2-Minderung höher einsteigen müssen. Sie blieb leider am unteren Rand der fachlichen Empfehlung des EU-Klimabeirats, den sie selbst mit einer Bewertung der klimapolitischen Notwendigkeiten und der ökonomischen Machbarkeit beauftragt hatte. Diese lautete "90 bis 95 Prozent".
Der Beirat hat gezeigt, dass auch 95 Prozent drin gewesen wären, ohne wirtschaftliche und soziale Verwerfungen auslösen. Dass die Kommission nun den unteren Wert wählte, ist keine Marginalie, auch wenn es nur um fünf Prozentpunkte geht.
Es hat nämlich durchaus praktische Folgen. So wird es 2040 bei 90 Prozent CO2-Reduktion noch einen nicht unerheblichen Rest an fossilen Emissionen geben.
Dieser Rest stammt dann vor allem aus der noch nicht beendeten Nutzung von Erdgas in der Stromproduktion und zum Heizen sowie aus dem Verkehr, der immer noch Mineralölprodukte durch den Auspuff jagt. Der Druck, in diesen Sektoren wirklich radikal umzusteuern und auf CO2-freie Energie umzusteigen, wird unnötig abgeschwächt.
Dabei zeigen Analysen, dass ein ambitioniertes Vorgehen hier viele Vorteile hätte, darunter weniger Importe von Erdgas und Erdöl, wodurch die EU-Staaten Energiekosten und geopolitische Abhängigkeiten verringern würden, von sauberer Luft und sinkenden Gesundheitskosten ganz zu schweigen.
Ein starker Rechtsruck würde vom Green Deal nicht viel übrig lassen
Hinzu kommt, dass die Kommission besagte Schlupflöcher öffnet, und die lassen es unsicher erscheinen, ob das 90-Prozent-Ziel überhaupt erreicht werden kann. Hier geht es vor allem um natürliche und technische Verfahren, mit denen CO2 aus der Atmosphäre geholt werden soll.
Es ist zwar sympathisch, die Natur als "CO2-Senke" etwa durch Aufforstung und Moorschutz einzuspannen, um das Klima zu schützen. Doch es ist schwierig umzusetzen, siehe Waldsterben 2.0 und Bauernprotest.
Und ob technische Lösungen wie die Endlagerung von CO2 unter der Erde – Stichwort CCS – sowie dessen Nutzung als Rohstoff in der Industrie wirklich so funktionieren und bezahlbar sein werden, wie es die Brüsseler Kommission erhofft, ist mehr als fraglich.
Die Gefahr, dass die 90 Prozent in Wahrheit dann nur 85 sind, oder sogar noch weniger, ist groß. Und das wäre für den "Klimavorreiter Europa" mehr als peinlich.
Interessanterweise hat die Kommission auch berechnet, welche Kosten entstehen würden, wenn die Klimakrise nicht bekämpft wird. Extremwetterereignisse könnten danach die gigantische Summe von 2,4 Billionen Euro an Kosten für die zwei Jahrzehnte von 2031 bis 2050 fordern, sollte sich die EU nicht auf dem 1,5-Grad-Pfad bewegen.
Ob das freilich die Wähler wirklich bewegen wird, die in diesem Frühjahr ein neues EU-Parlament wählen, steht auf einem anderen Blatt. Es könnte sein, dass bei einem ausgeprägten Rechtsruck vom "Green Deal" nicht mehr viel übrig bleibt und sich die Frage, ob 90 oder 95 Prozent notwendig sind, in heißer Luft auflöst.