Schon vor drei Wochen, beim politischen Jahresauftakt der Erneuerbaren-Branche in Berlin, war zu ahnen, wie die am heutigen Montag verkündete Einigung der Ampel zur Kraftwerksstrategie ausfallen wird. Auf die Frage, welche Kraftwerke denn in Deutschland künftig vorgehalten werden müssen, plädierte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bei dem Branchentreffen für eine "No-Regret-Entscheidung", also für eine, die man später in keinem Fall bedauert, weil sie mögliche Alternativen nicht verbaut.

Die Idee vom Vorgehen ohne Bedauern taucht nun auch in der Einigung der Koalition auf. Um eine "No-Regret-Menge" an Kraftwerken schnell zur Verfügung zu haben, werde mit der Kraftwerksstrategie unverzüglich ein vorgezogener Neubau angereizt, heißt es dort.

Konkret sollen neue Kraftwerke von insgesamt 10.000 Megawatt kurzfristig in vier Tranchen zu je 2.500 Megawatt ausgeschrieben werden – zunächst als Erdgasanlagen. Die Kraftwerke sollen dann zwischen 2035 und 2040 auf Wasserstoff als Brennstoff umsteigen, über das konkrete Umstiegsdatum soll 2032 entschieden werden.

Habecks Pläne für neue Kraftwerke gestutzt

Neu ist dieser Vorschlag nicht. Bei den bisher bekannten Plänen aus dem Hause Habeck sollten in einem ersten Schritt ebenfalls 10.000 Megawatt bis Ende 2026 ausgeschrieben werden. Auch hier sollte zunächst Erdgas eingesetzt und bis 2035 auf Wasserstoff umgestellt werden, weswegen die Kraftwerke "H2-ready" genannt werden.

Ursprünglich sah der Habecksche Plan allerdings weit umfangreichere Neubauten vor. So war der Bau weiterer H2-ready-Kraftwerke im Umfang von 5.000 Megawatt im Gespräch sowie von 8.800 Megawatt, die mit grünem Wasserstoff oder seinen Abkömmlingen wie Ammoniak befeuert werden sollten, im Branchenjargon Sprinter- und Hybrid-Kraftwerke genannt.

Dieser weitergehende Teil des Plans ist mit der Einigung weitgehend gestrichen, der Bau von gerade mal 500 Megawatt reiner Wasserstoffkraftwerke soll über Forschungsgelder noch gefördert werden. Von knapp 24.000 Megawatt sind also 10.000 Megawatt übriggeblieben. Die Koalition einigte sich praktisch auf eine Light-Strategie.

Das hat am Ende handfeste wirtschaftliche Gründe. Die neuen Gaskraftwerke sollen nur laufen, wenn Erneuerbare nicht genügend Strom liefern, und so gerade auch die berühmte "Dunkelflaute" überbrücken, heißt es in einer jetzt veröffentlichen Analyse des Berliner Beratungsunternehmens Aurora Energy Research im Auftrag der Umweltstiftung WWF.

Neue Gaskraftwerke stehen die meiste Zeit still

Laut der Untersuchung werden diese H2-Gaskraftwerke 2030 nur so viel Strom liefern müssen, wie sie in 70 sogenannten Volllaststunden schaffen würden. Im Jahr 2040 würde dieser Zeitraum weniger als 870 Stunden betragen, umgerechnet rund 36 Tage. In einem klimaneutralen Stromsystem produziere ein Wasserstoffkraftwerk vor allem im Herbst und Winter, während es von April bis Juni stillstehe, stellen die Aurora-Experten nüchtern fest.

Zum Vergleich: Ein fossiles Erdgaskraftwerk erreicht derzeit um die 3.500 Volllaststunden im Jahr.

Zu der Aurora-Prognose von maximal 870 Stunden passt übrigens das Detail, dass laut Medienberichten auch der Betrieb der statt mit Erdgas später mit Wasserstoff laufenden Kraftwerke subventioniert werden soll – und zwar für bis zu 800 Stunden pro Jahr.

Was nach wenig aussieht, bedeutet tatsächlich: In den meisten Betriebsstunden wird der Staat Geld zuschießen müssen, damit der Wasserstoff-Strompreis nicht durch die Decke geht und den ganzen Markt mitreißt. Denn an der Strombörse setzt wegen der geltenden Merit-Order das teuerste Kraftwerk den Preis für alle anderen.

Vor allem Habecks einstiger Plan lief aufs Geldverbrennen hinaus: fast 24.000 Megawatt an neuen Kraftwerken, die noch gar nicht fertig entwickelt sind, einen teuren Brennstoff brauchen und dennoch mehr oder weniger in der Landschaft herumstehen. Das ist kostspielig.

Nicht ohne Grund ging die Energiewirtschaft zuletzt mit einer Forderung von 60 Milliarden Euro hausieren, die für Bau und Betrieb eines 24.000-Megawatt-Kraftwerksparks schon bis 2030 fehlen könnten. Bau und Förderung der jetzigen 10.000 Megawatt sollen "nur" noch um die 16 Milliarden Euro kosten. Die Koalition selbst teilte dazu nur mit, das Geld solle aus ihrer finanziellen Allzweckwaffe kommen, dem Klima- und Transformationsfonds.

Ab 2028 soll neuer Kapazitätsmarkt funktionieren

Aus Kostengründen zunächst mit den wasserstofffähigen Kraftwerken zu starten, trifft beim Energiebranchenverband BDEW auf Zustimmung. Die Energiebranche habe dies als Beitrag zur Kosteneffizienz selbst vorgeschlagen, sagte BDEW-Chefin Kerstin Andreae heute. "Richtigerweise werden teurere Hybrid- und Sprinter-Kraftwerke in der Strategie zurückgestellt", lobte sie.

Interessanter noch ist die Frage, warum die Koalition mit dem Bau der 10.000 Megawatt noch immer keine sichere Stromversorgung erreicht sieht. Denn spätestens 2028 soll darüber hinaus ein marktbasierter, technologieneutraler Kapazitätsmechanismus am Strommarkt eingerichtet sein. Eine politische Einigung darüber soll in der Ampelregierung bis zum kommenden Sommer erzielt werden.

Einen Kapazitätsmarkt haben bisher alle Bundesregierungen abgelehnt. Auf so einem Markt können sich Stromerzeuger aller Art und Größe in einer Auktion darum bewerben, über einen bestimmten Zeitraum zusätzliche Energie zu liefern, um eben Engpässe abzudecken. Denkbar ist zum Beispiel, dass sich ein Windpark mit einem großen Speicher zusammentut – oder mit einem großen Stromkunden, der seinen Bedarf immer dann absenkt, wenn Flaute herrscht.

Den Kombinationsmöglichkeiten sind kaum Grenzen gesetzt. Der Wettbewerb zwischen verschiedenen Technologien werde dazu führen, dass die Erzeugungsleistung dann von den kostengünstigsten Anlagen bereitgestellt wird, loben die Aurora-Analysten das Konzept.

In den Augen der Koalition jedenfalls verhindern die 10.000 Megawatt nicht den Aufbau des Kapazitätsmarktes, sind also eine "No-Regret-Strategie".

Für die Energieökonomin Claudia Kemfert birgt die Einigung auf den Bau neuer Erdgaskraftwerke allerdings die Gefahr, dass zunächst teure fossile Überkapazitäten entstehen. "Fossiles Erdgas ist ein Auslaufmodell, der Umstieg auf Wasserstoff bisher technisch nicht erprobt und damit unsicher", kritisiert Kemfert die Entscheidung. "Zudem ist fraglich, ob überhaupt die notwendigen Wasserstoff-Mengen in dem Zeitraum zur Verfügung stehen werden."

"Wichtig sind dezentrale Lösungen für mehr Flexibilität"

Kemfert betont: "Wichtiger als Gaskraftwerke sind dezentrale Lösungen für mehr Flexibilität inklusive des Ausbaus dezentraler Verteilnetze, ein digitales Energie- und Lastmanagement sowie der Ausbau von Speichern."

Dass die Menge der H2-ready-Anlagen verringert wurde, findet auch der Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE) richtig. Ihr Verband habe in den Diskussionen um die Kraftwerksstrategie schon lange vor fossilen Überkapazitäten gewarnt, erklärte BEE-Präsidentin Simone Peter am heutigen Montag.

Auf dem Kapazitätsmarkt müsse die Bundesregierung für faire Wettbewerbsbedingungen sorgen, mahnte Peter an. Zu berücksichtigen seien alle verfügbaren klimafreundlichen Flexibilitätspotenziale, vor allem steuerbare erneuerbare Quellen wie Bioenergie, Wasserkraft, Geothermie, grüne Kraft-Wärme-Kopplung, Speicher sowie Power‑to‑X.

Für Robert Busch lautet das Motto der Kraftwerksstrategie: "Erdgas first, Wasserstoff second". Durch den Schwerpunkt auf Erdgas werde "das Transformationstempo verlangsamt", kritisierte der Geschäftsführer des Energiewirtschaftsverbandes BNE die Einigung.

Die Betreiber von H2-ready-Gaskraftwerken hätten viel zu viel Zeit, ihre Kraftwerke vollständig auf grünen Wasserstoff umzustellen, bemängelte Busch. Im schlimmsten Fall werde der Stromsektor erst 2040 vollständig dekarbonisiert sein.

Auch den geplanten Kapazitätsmarkt sieht der BNE kritisch. Er führe zu Marktverzerrungen und habe hohe Kosten zur Folge, sagte Busch. "Die Marschrichtung muss sein, alle Flexibilitäts- und Speicherpotenziale zu aktivieren und alle bestehenden Barrieren konsequent abzubauen."

Redaktioneller Hinweis: Claudia Kemfert gehört dem Herausgeberrat von Klimareporter° an.

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