Klimareporter°: Herr Bolte, die Bundeswaldinventur soll Auskunft über den Zustand des deutschen Waldes geben. Wie lässt sich der bei über 100.000 Quadratkilometer Wald und rund 90 Milliarden Bäumen ermitteln?

Andreas Bolte: Da wir natürlich nicht jeden Baum begutachten können, werden repräsentative Stichproben genommen. Dabei haben mehrere hundert Personen an fast 80.000 Standorten über das gesamte Bundesgebiet verteilt gut eine halbe Million Bäume vermessen und auch Merkmale wie Artenmischung, Totholz, Bewirtschaftung und über hundert weitere erhoben.

Das Stichprobennetz entspricht dabei einem Vier-mal-vier-Kilometer-Raster über das ganze Land, in manchen Regionen auch verdichtet bis zum Zwei-mal-zwei-Kilometer-Raster.

Wir als Thünen-Institut sind zwar mit der Koordination und der bundesweiten Auswertung der Daten betraut, stimmen uns aber dazu eng mit den Ländern ab. Auch die Datenerhebung führen die Bundesländer durch.

Von Frühjahr 2021 bis Beginn 2023 wurden alle Daten gesammelt und geprüft, etwa durch unabhängige Kontrollmessungen. Sind die Daten als geprüft freigegeben, werden sie anschließend bei uns ausgewertet.

Das ist also alles ein aufwendiger und zeitintensiver Prozess. Dafür können wir am Ende wirklich zuverlässige Aussagen über den gesamten deutschen Wald machen.

Wichtigstes Ergebnis aus Klima-Perspektive: Der Wald stößt mehr CO2 aus, als er aufnimmt. Waren Sie davon überrascht?

Nein, überrascht war ich nicht. Schon frühere Projektionen unseres Thünen-Instituts haben in diese Richtung gezeigt.

Aber solche Modellstudien basieren natürlich immer auf Annahmen. Mit der Waldinventur haben wir es jetzt schwarz auf weiß und auch in einer entsprechenden Genauigkeit.

Eine Sache möchte ich kurz klarstellen, weil das in einigen Medienberichten missverständlich dargestellt wurde. Nicht der Wald selbst stößt das CO2 aus. Die Bäume nehmen natürlich nach wie vor CO2 auf.

Wir betrachten, wie sich die Gesamtmenge des im Wald gespeicherten Kohlenstoffs gegenüber der letzten Kohlenstoffinventur 2017 und einer kleinen Zwischeninventur verändert hat. Dabei spielen neben natürlichen Störungen wie Dürre, Windwurf oder Käferbefall auch die Waldbewirtschaftung und Holznutzung mit hinein.

Es ist also nicht so, dass die deutschen Wälder ganz viel CO2 ausgasen, sondern in unserer Bewertung betrachten wir die gesamte Nutzungskette. Wenn Holz nicht gerade in langlebigen Bauprodukten verwendet wird, sondern zum Beispiel als Brennholz, dann entstehen dabei Emissionen, die wir in die Inventur mitaufnehmen.

Eines sucht man im veröffentlichten Bericht zur Bundeswaldinventur vergebens: eine genaue Angabe, wie viel CO2 der Wald und alle nachgelagerten Nutzungen zwischen 2017 und 2022 emittiert haben. Sind die Unsicherheiten zu groß, um das zu beziffern?

Was in dem Bericht steht, ist die Änderung des Kohlenstoffvorrats im Wald. Hier hat sich ergeben, dass der Kohlenstoffvorrat der lebenden Biomasse im Wald zwischen 2017 und 2022 um 41,5 Millionen Tonnen zurückgegangen ist.

Bild: Marco Natkhin

Andreas Bolte

leitet das für die Koordinierung der Bundes­wald­inventur zuständige Thünen-Institut für Wald­öko­systeme im branden­burgischen Ebers­walde. Der Forst­wissen­schaftler sitzt zudem im Wissen­schaft­lichen Beirat für Natürlichen Klima­schutz des Bundes­umwelt­ministeriums sowie im Klima­beirat Brandenburg.

Das könnte man nun mit dem Faktor 3,67 in CO2-Emissionen umrechnen. Dann hätte man die Emissionen für die gesamte Fünf-Jahres-Periode. Zu bedenken ist jedoch, dass ein Teil des Kohlenstoffs auch noch in Totholz, im Boden oder langlebigen Holzprodukten gespeichert sein kann.

Der Bericht zeigt allerdings, dass der Holzproduktepool stabil geblieben ist und der Anstieg des Totholzes nur einen Bruchteil der Kohlenstoffabnahme in der lebenden Biomasse wettmacht. Für den Boden ist zudem durch Störungen eher eine Abnahme als Zunahme des Kohlenstoffvorrats zu erwarten.

Die genauen Zahlen liefert das vom Thünen-Institut mitberechnete sogenannte Inventar zur jährlichen Treibhausgasbilanz, das derzeit zur Prüfung und Abstimmung beim Umweltbundesamt liegt. Die Hauptaussage steht allerdings schon heute fest: Der Wald hat die Schwelle von der Senke zur Quelle überschritten.

In seinem aktuellen Projektionsbericht hat das Umweltbundesamt bereits gewarnt, dass der Wald vor dieser Schwelle steht. Demnach hätte er sie aber erst 2042 überschreiten sollen.

Die Annahmen des Projektionsberichtes, an dem wir im Thünen-Institut maßgeblich mitgewirkt haben, basieren noch auf Daten der vergangenen Bundeswaldinventuren. Der Bericht bezieht die Waldschäden der letzten Jahre zwar mit ein, aber noch nicht die Daten aus der aktuellen Inventur. Er ist somit überholt.

Die Situation hat sich gegenüber den Zahlen des Projektionsberichts deutlich verschärft. Die Zahlen der vergangenen Jahre müssen nun auf Grundlage der aktuellen Waldinventur – auch rückwirkend – neu berechnet und korrigiert werden.

Das Öko-Institut hat in einer kürzlich veröffentlichten Studie gewarnt, dass in den Projektionsberichten natürliche Störungen unterschätzt werden. Hat sich das mit dieser Bundeswaldinventur nun bestätigt?

Auch beim Öko-Institut scheint da ein methodischer Paradigmenwechsel stattgefunden zu haben. Vor zwei Jahren hat das Institut noch eine Studie veröffentlicht, in der es hieß, dass die Wälder auch zukünftig eine Senke bleiben.

Nichtsdestotrotz haben die Kollegen da sicherlich recht und die Annahmen unserer Projektionen auf Basis der vergangenen Inventuren waren in der Vergangenheit zu optimistisch. Das hat die aktuelle Inventur zweifelsohne bestätigt und wir werden unsere Annahmen für künftige Projektionen überdenken müssen.

Ab 2030 soll der Landnutzungssektor – Siedlungen, Agrarflächen, Feuchtgebiete und eben auch der Wald – jedes Jahr 25 Millionen Tonnen CO2 aufnehmen, um die Emissionen anderer Sektoren auszugleichen. Ab 2040 sollen es 35 Millionen und ab 2045 sogar 40 Millionen Tonnen sein. So steht es im Klimaschutzgesetz. Da Siedlungen, Äcker und Feuchtgebiete seit Jahren CO2 emittieren, lag die Hoffnung auf dem Wald. Sind angesichts der neuen Erkenntnisse die Klimaziele unerreichbar?

Grundsätzlich können Veränderungen des Kohlenstoffvorrats von Jahr zu Jahr stark schwanken – wenn etwa die Nutzung abnimmt und gleichzeitig günstige Witterungsbedingungen herrschen.

Auch in den letzten beiden Jahren, die von der aktuellen Inventur nicht mehr erfasst werden, gab es sicherlich eine bessere Zuwachsrate als in den beobachteten Jahren.

Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass sich die Waldnutzung in den nächsten Jahren grundlegend verändert, und auch der Klimawandel schreitet voran. Dementsprechend halte ich es für unwahrscheinlich, dass der Wald 2030 eine nennenswerte Senkenleistung haben wird.

Da das auch von den anderen Bereichen im Landnutzungssektor wohl zukünftig nicht aufgefangen werden kann, wird das Ziel für 2030 wohl deutlich verfehlt.

Angenommen, es kommt in den nächsten Jahren zu keinen größeren Dürrekatastrophen mit entsprechender Massenvermehrung des Borkenkäfers – trotzdem unwahrscheinlich?

Wir haben zwischen 2017 und 2022 die Motoren der Kohlenstoffbindung verloren. Das waren die mittelalten und hochproduktiven Fichtenbestände.

Gerade die haben massiv Schaden genommen. Dadurch hat sich der Zuwachs im Vergleich zum Zeitraum 2012 bis 2017 erheblich reduziert.

Das werden wir in den nächsten Jahren nicht wieder aufholen können. Diese Bäume sind schlicht nicht mehr da. Da wächst zwar wieder junger Wald an, aber es wird 20 bis 30 Jahre dauern, bis er wieder dieses Zuwachsniveau erreicht.

Wir wissen nicht, ob es in den nächsten Jahren wieder zu so großflächigen Schäden kommen wird. Was wir aber wissen: Viele hochproduktive Bestände sind weg, und die Nutzung als Bauholz oder im Energiesektor wird in den nächsten Jahren kaum nennenswert abnehmen.

Geringerer Zuwachs, aber gleichbleibende Nutzung lassen also darauf schließen, dass die Senkenwirkung gering bleiben wird, sofern es überhaupt eine gibt.

Gerade auf Social-Media-Plattformen wird gerne wild spekuliert, worunter der Wald am meisten leidet. Für Energiewendegegner:innen ist der Bau von Windkraftanlagen der Hauptfeind des Waldes. Welche Antwort findet die Bundeswaldinventur auf diese Frage?

Da ergibt sich ein sehr klares Bild. An den Orten, an denen die Verdunstung höher war als der Wassereintrag – wo es also ein starkes Wasserdefizit gab –, gibt es die größten Schäden.

Das stimmt nicht nur für viele Gebiete in Deutschland, sondern auch für Tschechien, Frankreich, den Norden Österreichs und andere Regionen.

Da müssen keine anderen Ursachen bemüht werden. Die Hauptursache war ganz klar die Klimawirkung und nachgelagerter Schädlingsbefall, in geringem Maße auch Waldbrände. Flächenverbrauch, also etwa Waldumwandlung für Windkraftanlagen, spielt hier keine Rolle.

Die Dürrejahre von 2018 bis 2020 haben dem Wald besonders stark zugesetzt. (Bild: Yves Bernardi/Pixabay)

Insgesamt ist die Waldfläche in Deutschland gewachsen. Einige Gebiete sind naturnäher als zuvor. Manche der Ergebnisse können doch auch hoffnungsvoll stimmen?

Auf jeden Fall. Zu den Fichten- und Kieferreinbeständen muss man auch sagen, dass die heutigen Förster sie von ihren Vorgängern geerbt haben. Die Fichtenreinbestände wurden größtenteils nach dem Zweiten Weltkrieg gepflanzt, die Kiefernbestände im Osten zu DDR-Zeiten.

Die allermeisten Forstwirte wollen in Richtung Mischwald, naturnaher Wald gehen. Und das zeigen unsere Ergebnisse auch.

Laubholz hat zugenommen. Es gibt eine bessere Artenmischung, und die Wälder sind strukturreicher als früher. Da passiert also einiges. Aber der Wald ist eben ein langlebiges und träges System.

Diese Krise bietet auch ganz klare Chancen. Auf den stark geschädigten Flächen kann der Waldumbau vorangetrieben werden. Das kann auf natürliche Weise passieren, häufig braucht es aber die Unterstützung von Förstern. Es müssen neue, klimastabilere Baumarten eingebracht werden. Damit steigt schließlich die Anpassungsfähigkeit und Klimaresilienz der Wälder.

Ich habe mich wirklich gewundert, wie negativ die letzten Tage über den Wald berichtet wurde. Da gab es Titel wie "Der Wald ist jetzt Klimasünder" (lacht). Der Wald kann nun wirklich nichts dafür. Der lebende Wald ist weiterhin neben nicht entwässerten Mooren unsere einzige natürliche CO2-Senke.

Um die Senkenfunktion des Waldes zu stärken, schlägt zum Beispiel die Initiative Bauhaus Erde vor, mehr mit Holz zu bauen. So soll der Kohlenstoff für Jahrhunderte gebunden und gleichzeitig die Produktivität von Wäldern gefördert werden. Ein sinnvoller Vorschlag?

Die stärkere Nutzung langlebiger Holzprodukte ist erstmal eine gute Idee. Deshalb unterstütze ich diese Initiative von Hans-Joachim Schellnhuber.

Allerdings müssen wir uns darüber unterhalten, wo das Holz herkommt und auch an welcher anderen Stelle die Nutzung dann reduziert werden muss. Was ist zum Beispiel mit Energieholz – zum Heizen oder als Brückentechnologie im Energiesektor?

Diese Nutzungskonflikte müssen politisch und gesellschaftlich diskutiert werden. Wir können nicht, wie Naturschutzverbände fordern, die Nutzung reduzieren, um naturnähere Wälder zu ermöglichen, gleichzeitig aber immer mehr mit Holz bauen und Holz auch noch im Energiesektor verbrauchen.

Alles geht nicht.

Immerhin ein Viertel des deutschen Waldes gehört den zahlreichen Kleinwaldbesitzer:innen. Diese spielen also eine wichtige Rolle beim Waldumbau. Welche Herausforderungen kommen auf sie zu?

Das lässt sich pauschal nicht sagen. In schön strukturierten Buchenwäldern gibt es andere Herausforderungen als in Kiefernforsten.

Die Frage ist, wie wir mit den Kiefern- und Fichtenforsten umgehen wollen. Sollen wir die in Ruhe lassen, damit sie noch eine Zeit lang CO2 aufnehmen können?

Oder sollen wir jetzt schon anfangen, eine Mischwald-Verjüngung in diesen Gebieten zu pflanzen? Dafür braucht es Licht. Das heißt, es müssen Bäume gefällt werden.

Den Wald klimafit zu machen, ist eine Generationsaufgabe. Ich glaube, es ist wichtig, das schon heute vorzubereiten. Auf trockenen Kahlflächen zum Beispiel nach einem großflächigen Käferbefall ist es schwierig, neue Wälder zu etablieren.

Aber natürlich heißt aktiver Waldumbau auch, dass Kohlenstoffvorräte, also Bäume, geopfert werden müssen.

Also lieber jetzt Bäume fällen und den klimaresilienten Waldumbau beschleunigen?

Damit das überhaupt geht, müssten die starren Vorgaben im Klimaschutzgesetz angepasst werden.

Aber ja, ich denke, das wäre sinnvoll. Es ist zwar kurzfristig gut für die Klimabilanz, die Nadelforste jetzt noch Kohlendioxid aufnehmen zu lassen. Aber wenn diese Wälder dann 2050 alle absterben und zu einer massiven CO2-Quelle werden, haben wir nichts davon.

 

Was fordern Sie generell von der Politik?

Die Politik müsste einen Rahmen schaffen, in dem alle Akteure aus Politik, Wirtschaft, aber auch der Gesellschaft im Allgemeinen diskutieren und überlegen, wie wir den Waldumbau gestalten wollen.

Viele Waldbesitzer finden Naturschützer zurzeit ganz schlimm und umgekehrt. Dieses Aufeinander-Einhauen lähmt jegliche Veränderungsdynamik. Sogar auf der Regierungsebene kann man bisweilen beobachten, wie das Landwirtschafts-, das Umwelt- und das Klima- und Wirtschaftsministerium Partikularinteressen vertreten.

Da soll laut einem Strategiepapier mehr Wald aus der Nutzung genommen werden und laut einem anderen Papier mehr holzige Biomasse energetisch genutzt werden.

Letztendlich müsste eben auch das Klimaschutzgesetz mit seinen starren Zielwerten angepasst werden. Gerade beim Wald ist es möglicherweise nötig, erstmal Ziele zu verfehlen, um langfristig einen klimaresilienten Wald zu ermöglichen.

Wenn wir den Wald erfolgreich umbauen, kann es gut sein, dass wir ab 2050 wieder wesentlich produktivere Wälder haben. Aber die Lücke zwischen heute und dann muss vom Gesetzgeber ermöglicht werden.