Vor leicht bewölktem Sommerhimmel eine blau-gelbe Achterbahn mit dem Schriftzug: Turbo.
Einen Turbo fürs Energiesparen will eine Expertengruppe auslösen. (Foto: Oliver Hale/​Unsplash)

Es ist ein überaus ambitionierter Plan. Deutschland kann sich danach bereits binnen weniger Monate unabhängig von russischen Energielieferungen machen, nicht erst 2024, wie es die Bundesregierung plant.

Das rechnet ein internationaler Thinktank in einer "Lösungsstudie" vor. Die Hebel dafür sind vor allem ein schneller Ausbau der Windkraft, die Nutzung von Biogas, um die Erdgasspeicher zu füllen, Energieeinsparungen sowie Änderungen im Mobilitätsverhalten.

Vorteil laut der Experten-Gruppe: Einschränkungen bei der Industrieproduktion wären ebenso unnötig wie teure Flüssigerdgas-Importe.

Deutschland hat seine Abhängigkeit von russischem Erdgas bereits deutlich reduziert. Im vergangenen Jahr lag der Anteil am gesamten Gasverbrauch noch bei rund 55 Prozent, jetzt sind es nur noch 30 Prozent.

Ersetzt wurde es zum großen Teil durch andere Lieferungen, etwa aus Norwegen und den Niederlanden, außerdem verbrauchten Industrie, Kraftwerke und Privathaushalte weniger. Trotzdem drohen Lieferengpässe und noch höhere Kosten, wenn das Gas aus Russland dauerhaft abgestellt wird oder verringert fließt.

Der "Zero Emission Think Tank" (Zett) glaubt, dass ein Booster bei den erneuerbaren Energien zusammen mit Energieeinsparungen aus dieser Abhängigkeit herausführen kann. Der Masterplan umfasst einmalige Investitionen von 40 Milliarden Euro, wodurch allerdings Einsparungen von zehn Milliarden jährlich möglich sein sollen, allein schon durch geringere Heizkosten.

Biogas ins Erdgasnetz

Für den Thinktank arbeiten unter anderem der frühere Leiter des Fraunhofer-Instituts für Solare Energieforschung (ISE), Eicke Weber, der Ex-Grünen-Abgeordnete Hans-Josef Fell sowie US-Wissenschaftler aus Boulder, Stanford und Berkeley, darunter "Energiesparpapst" Amory Lovins.

Die Gruppe schlägt vor, einen Großteil der bestehenden rund 9.700 Biogasanlagen in Deutschland an das Erdgasnetz anzuschließen. Mit dem Biogas könnten die Erdgasspeicher, deren Füllstand derzeit rund 65 Prozent beträgt, in den nächsten Monaten komplett gefüllt werden.

Eine Frau bringt Dämmplatten an einer Wand an.
Dämmen als Do-it-yourself-Programm ist einer der Vorschläge. (Foto: KRA)

Bisher wird das Biogas zumeist direkt in den Anlagen zur Stromproduktion genutzt, was dann wegfiele. "Der Vorteil voller Gasspeicher ist so groß, dass das tolerierbar ist", sagt Zett-Direktor Ingo Stuckmann.

Der Biogas-Strom könnte wiederum durch einen schnellen Ausbau von Wind- und Solarenergie schon in diesem Jahr mehr als ausgeglichen werden, so die Untersuchung.

Laut der Studie könnten bis Ende des Jahres per "Sofortgesetz" rund 1.700 zusätzliche Windkraftanlagen gebaut werden, die bereits genehmigt, aber noch nicht errichtet seien.

Der Bau solle "typenoffen" erfolgen dürfen. Es könnten dann gleich moderne, leistungsstarke Windanlagen mit sechs Megawatt Nennleistung gebaut werden statt der ursprünglich beantragten, die nach jahrelang stockenden Genehmigungsverfahren veraltet sind und nur rund vier Megawatt leisten können. Damit ließen sich rund 40 Milliarden Kilowattstunden Elektrizität im Jahr zusätzlich erzeugen.

Wärmeoffensive in Millionen Wohnungen

Weiter schlägt der Thinktank vor, bis zum Winter rund 330.000 zusätzliche Strom-Wärmepumpen zu installieren, die jeweils mehrere Wohnungen oder – in einem Nahwärmenetz – mehrere Häuser, zum Beispiel Reihenhäuser, versorgen könnten.

Ziel ist es, kurzfristig rund drei Millionen zusätzliche Haushalte mit Wärme aus Strom zu versorgen, die bisher mit Erdgas geheizt werden. Dadurch könnten neue "Nachbarschafts-Energiegemeinschaften" entstehen.

Ein weiterer Schwerpunkt des Vorschlags ist eine staatlich geförderte Wärme-Innendämm-Offensive für öffentliche und private Gebäude, bei der auch die Zivilgesellschaft einbezogen werden soll (siehe Kasten).

Do-it-yourself-Dämmen

In dem Projekt "Innenwärmedämmung" sollen Millionen Wohnungen im Do-it-yourself-Verfahren mit einer Innendämmung versehen werden. Eine Innendämmung ist relativ einfach anzubringen, weil man – anders als bei der Außendämmung – kein Gerüst braucht und Eigenarbeit möglich ist. Allerdings verkleinert sich der Innenraum, außerdem ist fachgerecht zu arbeiten, damit keine Feuchtigkeitsschäden auftreten.


Der Thinktank schlägt eine für Schulen verpflichtende "Energieunabhängigkeits-Projektwoche" vor, in der die Schüler unter Anleitung ihr eigenes Klassenzimmer von innen dämmen, finanziert über pauschale Bundesmittel. Die Schüler könnten ihre Eltern dann an diesem Praxisbeispiel ausbilden, um dann auch zu Hause Ähnliches auszuführen.


In allgemeinen Schulen, Berufsschulen und Volkshochschulen sollten "Energieunabhängigkeits-Zentren" eingerichtet werden, wo sich Interessierte über die innen gedämmten Klassenzimmer informieren und einen einfachen Antrag auf Finanzierung der Dämmung der eigenen Wohnung stellen können.


Die Studie sieht eine staatliche "Innendämmprämie" von 5.000 Euro pro Wohneinheit vor, die unbürokratisch im Energieunabhängigkeits-Zentrum, bei Klimamanagern der Kommunen oder online beantragt werden kann. Die Hälfte soll für das Dämmmaterial aufgewandt werden, die andere Hälfte für Aufwandsentschädigungen für die Schüler, Auszubildenden, Studierenden, Rentner oder anderen Freiwilligen, die die Arbeiten ausführen.


Der Thinktank glaubt, dass große Bevölkerungsgruppen wie die Jugendlichen von Fridays for Future und deren Eltern dafür aktiviert werden könnten.

So könnten Schüler eingebunden werden, die unter Anleitung von Fachleuten in einer bundesweiten Projektwoche mithelfen, ihre Klassenräume innen zu dämmen – und die erworbenen Kenntnisse dann auch, unterstützt durch Klimamanager sowie eine aufsuchende Beratung der Kommunen, in der elterlichen Wohnung umzusetzen, wo das möglich ist. Genutzt werden sollen dafür "einfache Baumarktsysteme" zur Innendämmung.

Der Thinktank hält es für möglich, auf diese Weise in relativ kurzer Zeit bis zu 4,8 Millionen Wohnungen energetisch zu verbessern und damit zehn Milliarden Euro Heizkosten jährlich einzusparen.

"Klima-Lösungs-Bewegung"

Weitere Vorschläge des Konzepts betreffen Verhaltensänderungen der Bürger beim Heizen und bei der Mobilität. So soll die Raumtemperatur in der Heizperiode um zwei Grad gesenkt werden, was rund zwölf Prozent Energie einsparen würde.

Zudem soll jede fünfte Autofahrt ersetzt werden. Stichworte: Umstieg aufs Fahrrad oder auf den öffentlichen Verkehr, Verlängerung des Neun-Euro-Tickets, Pop-up-Radwege, dauerhafte Einführung von Homeoffice, wo möglich, zumindest für einen Tag pro Woche.

Ergänzt werden soll das durch ein zeitlich befristetes Tempolimit auf allen Straßen: Tempo 110 auf Autobahnen, Tempo 80 außerorts, Tempo 30 in den Städten.

Zett-Chef Stuckmann betont: "Statt enorme Summen Geld auszugeben, um Flüssigerdgas zu beschaffen und damit unsere Abhängigkeit von fossilen Energien zu verlängern, sollte die Bundesregierung jetzt neue Wege gehen, um den Umstieg auf günstige Erneuerbare und Effizienz zu beschleunigen. Es gibt keinen Grund, weiter draufzuzahlen."

Er glaubt, dass viele Bürger gerade derzeit – angesichts des Ukraine-Krieges und der Hitzewelle – bereit seien, sich zu engagieren, ob beim Umstieg vom Auto oder bei unkonventionellen Ideen wie der vorgeschlagenen Dämm-Offensive. "Die Menschen wollen doch etwas tun, wir brauchen eine neue Klima-Lösungs-Bewegung, und die Regierung sollte das ermöglichen", sagt der Energieexperte.

Damit sei sogar wieder der 1,5-Grad-Pfad beim Klimaschutz in Sicht, meint Stuckmann, ein Windenergie-Pionier, ehemaliger Bundestagskandidat der Grünen und Mitarbeiter in der Klimakampagne von Friedensnobelpreisträger Al Gore.

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