Das Wichtigste aus 52 Wochen: Sonst befragen wir die Mitglieder unseres Herausgeberrats im Wechsel jeden Sonntag zu ihrer klimapolitischen Überraschung der Woche. Zum Jahresende wollten wir wissen: Was war Ihre Überraschung des Jahres? Heute: Tim Meyer, Vorstand beim Öko-Energieversorger Naturstrom.
Dieser Tage frage ich mich oft, wie wir in Deutschland wohl in zehn Jahren auf das Jahr 2021 zurückblicken werden. Als Optimist denke ich: Die Chancen stehen gut, dass dieses Jahr tatsächlich einen Aufbruch in der Klima- und Energiewendepolitik markiert.
Wie bleiern schwer waren die vielen Jahre zuvor: eine rundum ambitionslose Energie- und Klimapolitik, missglückte Ausschreibungsdesigns, das unselige Ringen um den Solardeckel, wirkungslos verpuffte Windgipfel, eine ambitionslose EEG-Novelle und ein unzureichendes Klimaschutzgesetz.
Apropos Klimaschutzgesetz: Die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen das erste Klimaschutzgesetz war für mich die Überraschung des Jahres. In die sich immer zäher und surrealer an den Fakten vorbeischleppende Klimaschutzdebatte fuhr der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts wie ein Blitz.
Das Kalkül der damaligen Bundesregierung, "hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030" zu verschieben, war Ende April plötzlich verfassungswidrig. Der jungen Generation diese Last aufzubürden, verletzt sie in ihren Freiheitsrechten, argumentierte das Gericht. Und so hat es die Bundesregierung dazu verdonnert, das Gesetz nachzubessern. In allen Lagern hat dies gewirkt wie ein höchstrichterlicher Weckruf.
In der öffentlichen Diskussion hat das Urteil eine klare Linie aufgezeigt, hinter der plötzlich keine ernstzunehmende politische Kraft mehr stehen wollte und durfte. In der Szene der erneuerbaren Energien hat es zudem gezeigt, dass man den Beharrungskräften eben nicht machtlos dabei zusehen muss, wie unser Klima zu Tode verwaltet wird. Beides hat neue Kräfte freigesetzt.
Und tatsächlich haben wir ein gutes halbes Jahr später eine neue Bundesregierung, die einen Anteil erneuerbarer Energien im Stromsektor von 80 Prozent im Jahr 2030 als Ziel ausgibt. Die den Kohleausstieg bis 2030 erreichen will. Und die sich auch im oft vernachlässigten Wärmebereich einen Anteil von 50 Prozent klimaneutralen Energien für 2030 zum Ziel nimmt. In einem Klimaschutz-Sofortprogramm sollen 2022 zentrale Maßnahmen kurzfristig auf den Weg gebracht werden – auch dazu haben sich die Koalitionäre in ihrem Vertrag verpflichtet.
Wissenschaftler und Umweltverbände weisen vermutlich zu Recht darauf hin, dass die im Koalitionsvertrag beschriebenen Maßnahmen noch nicht ausreichen, um Deutschland verlässlich auf den 1,5-Grad-Pfad zu führen. Und ja, einige Chancen wurden auf den letzten Metern liegengelassen. Vor allem im Verkehrssektor bleiben die Klimaschutzmaßnahmen der Ampel-Koalition deutlich hinter dem Machbaren und Notwendigen zurück.
Dennoch meine ich: Die 177 Seiten Vertragswerk sind ein starkes Signal, dass es endlich mit mehr Tempo vorwärtsgehen soll.
Enthusiasmus und Pragmatismus
Nötig ist das, denn 2021 hielt auch bittere Überraschungen für uns bereit. Die Flutkatastrophen, die im Sommer das Ahrtal und andere Teile Deutschlands heimsuchten, haben uns drastisch vor Augen geführt, wie fundamental Extremwetterereignisse auch hier im scheinbar behüteten Deutschland unser Leben und unseren Wohlstand bedrohen.
Es wird noch lange dauern, bis die zerstörten Häuser und Ortschaften wieder aufgebaut sind. Für die Menschen vor Ort ist die Katastrophe längst nicht vorbei. Und der Strom der Nachrichten von weltweiten Unwetterereignissen und unumkehrbaren Veränderungen der Ökosysteme schwillt immer weiter an.
Was nehme ich aus alldem für die nähere Zukunft mit? Wenn uns 2021 im Rückblick als Jahr des klimapolitischen Aufbruchs in Erinnerung bleiben soll, dann folgt daraus ein Auftrag an uns alle, das kommende 2022 zu einem Jahr des Handelns zu machen. Die Ampel steht zwar jetzt auf Grün – am Losfahren hindert uns aber noch ein langer und dichter Gesetzesstau.
Die Bundesregierung muss nun schnell ihren Koalitionsvertrag in neue, das heißt vor allem einfache und klare Spielregeln für die Energiewende übersetzen. Landesregierungen, Bezirksregierungen, Landratsämter und kommunale Verwaltungen müssen das Ihre dazu beitragen, aber auch Unternehmen, Anwohner, Verbände und Vereine.
Denn die größte Herausforderung wird es sein zu verhindern, dass die berechtigten und teils widerstrebenden Interessen der verschiedensten Akteure im Kampf ums letzte Komma in Tausenden von Paragrafen und über alle Gerichtsinstanzen ausarten. Auf eine Weise muss und kann sich Deutschland hier auch kulturell regelrecht neu erfinden. Wir müssen vermutlich alle unsere Balance aus "individuellem Rechthabenwollen" und "gemeinsamer Zielverpflichtung" neu justieren.
Sollte dies gelingen, werden wir, ob im Beruf oder privat, den Paragrafen am Ende Leben einhauchen. Ob aus Enthusiasmus, weil das Lastenrad, der Solarspeicher oder die öko-fairen Klamotten auch irgendwie cool sind. Oder aus Pragmatismus, weil die Wärmepumpe, das E-Auto oder die Effizienzmaßnahmen im Betrieb auf lange Sicht günstiger kommen als die neue Gastherme, der Benziner oder die Mehrausgaben für unnötig hohe Energieverbräuche.
Trotz der Zumutungen, die es ebenfalls geben wird, bin und bleibe ich Optimist: Es gibt deutlich mehr zu gewinnen als zu verlieren. Wir schaffen das!