Mauer mit Graffito-Aufschrift
Die Aufgabe ist gewaltig: Graffito auf dem Rest der Berliner Mauer. (Foto: Tony Webster/​Wikimedia Commons)

Die nächste deutsche Regierung steht vor einer Feuertaufe. Während SPD, Grüne und FDP ihre Ziele für eine neue Regierungskoalition ausloten, rückt der Klimagipfel in Glasgow – die wichtigste Klimakonferenz seit dem Pariser Klimaabkommen von 2015 – näher.

Nur wenige Jahre bleiben, um die Klimakrise einzudämmen. Der in diesem Sommer veröffentlichte erste Teil des sechsten Weltklimaberichts meldete weltweit "Alarmstufe Rot".

In Deutschland haben die Hochwasser im Juli deutlich gezeigt, dass die Folgen der Erderhitzung nicht nur in fernen Weltregionen, sondern hier und jetzt zu spüren sind – und dass sie Leben und Existenzgrundlagen vernichten.

Mit dem Handlungsdruck wächst auch die Klimaangst, vor allem unter jungen Menschen: Drei von vier Jugendlichen fürchten sich vor einer Zukunft im Schatten der Klimabedrohung. Das ergaben Umfragen in zehn Ländern, die das Fachjournal Lancet Planetary Health veröffentlichte.

Bei der Bundestagswahl ist diese Sorge umgeschlagen in eine Forderung nach umfassender politischer Veränderung. Darin sind sich Parteien und Meinungsforschung einig. Der Hunger nach Veränderung treibt vor allem die Jugend an.

Dass Veränderung nötig ist, wird inzwischen auch in Industrie und Unternehmen zunehmend anerkannt. Knapp 70 Firmen, darunter Schwergewichte wie Thyssen-Krupp, Allianz, Telekom, Otto Group oder Vattenfall forderten in einem Appell eine Offensive für Klimaneutralität in den ersten 100 Tagen.

Mut ist das Gebot der Stunde

Die nächste Regierung hat damit ein fundiertes Mandat, sich an die Spitze des Klimaschutzes zu stellen. Auf Wahlzyklen fixiert und von Lobbyinteressen belagert, haben sich politisch Verantwortliche bisher jedoch allzu oft vor einem echten Wandel in der Klimapolitik gedrückt. Die Koalitionspartner in der neuen Bundesregierung sollten dieser Versuchung widerstehen.

Mut ist das Gebot der Stunde. Deutschlands nächste Regierung steht auch vor einer Chance von historischem Ausmaß. Diese zu nutzen, erfordert ein umfassendes Klimaschutzprogramm – und gleichzeitig den Blick weit darüber hinaus.

Porträtaufnahme von Laurence Tubiana.
Foto: Daniel Haro

Laurence Tubiana

leitet die European Climate Foundation. Die promovierte Ökonomin hat als Klima­botschafterin Frank­reichs bei der Klima­konferenz COP 21 vor sechs Jahren das Pariser Klima­abkommen mit­bestimmt.

Am Horizont steht nicht nur eine grüne industrielle Revolution. Am Horizont steht auch die Chance zu einem neuen Gesellschaftsvertrag, der die Generationen verbinden und politische Gräben überbrücken kann.

Zentral für diesen Generationenvertrag ist das menschliche Wohlergehen und soziale Gerechtigkeit – und nicht die irrige Annahme, die Ressourcen seien endlos.

Das Zusammentreffen von Corona-Pandemie, den Klima-Katastrophen des Sommers und dem Ende der Ära Angela Merkel hat die Debatte darüber angeheizt, wie Deutschland gestaltet werden sollte. Wenn die neue Regierungskoalition zeigt, dass sie die bis 2030 nötigen Reformen fair umsetzen kann, dann kann Deutschland Modell und Vorreiter auf dem Weg in eine wahrhaft lohnenswerte Zukunft sein.

Wenn Deutschland es schafft, werden viele Länder folgen

Der Green Deal und das Fit-for-55-Paket der Europäischen Kommission bilden auch einen Rahmen für Deutschlands Weg in die Klimaneutralität. Die Schritte sind klar – der massive Ausbau der erneuerbaren Energien, ein auf 2030 vorgezogener Kohleausstieg und die schnellere Einführung von Elektrofahrzeugen sind einige davon. Zugleich müssen hohe Belastungen für ärmere Haushalte etwa aus der CO2-Bepreisung sozial gerecht abgefedert werden.

Wenn Deutschland es schafft, seine Wirtschaft zu transformieren, werden viele Länder in Europa und weltweit folgen. Deutschland kann auf dem Klimagipfel in Glasgow seinen Einfluss nutzen. Es kann Vertrauen unter den Verhandlungspartnern wiederaufbauen und ehrgeizige Klimaschutzvereinbarungen auch mit Entwicklungsländern voranbringen, die am meisten unter dem Klimawandel leiden, ihn aber am wenigsten verursacht haben.

Deutschlands Finanzsektor wird zudem eine Schlüsselrolle in der Finanzierung der globalen Klimawende spielen. Nach Angaben der Europäischen Kommission sind in den nächsten zehn Jahren jährlich mehr als 300 Milliarden Euro an zusätzlichen Investitionen erforderlich, um die Treibhausgasemissionen bis 2030 gemäß EU-Ziel um 55 Prozent zu senken.

Die Klimawende birgt ein großes Versprechen und sie dreht sich nur vermeintlich ums Klima. Es geht vielmehr um unsere Sicherheit, unsere Gesundheit, um unsere Lebensgrundlagen und neue Chancen für die Wirtschaft, um Gerechtigkeit zwischen den Generationen und fairere internationale Beziehungen.

All dies ist durch die Erderhitzung gefährdet. All dies kann mit der Klimawende und einem aus ihr geschöpften neuen Gesellschaftsvertrag gewonnen werden. Die nächste deutsche Regierung kann in diesem kritischen Moment die Weichen stellen.

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