Windkraft NRW
Die Klimaschutzanstrengungen sollen verdreifacht werden, so auch der Erneuerbaren-Ausbau. (Foto: Frank Wiedemeier/​EANRW/​Flickr)

Die vielleicht größte Baustelle der nächsten Bundesregierung wird der Klimaschutz sein. Denn Deutschland hat zwar sein CO2-Ziel für 2020 geschafft, minus 40 Prozent gegenüber 1990. Doch das war vor allem ein Effekt der Corona-Lockdowns, nicht von nachhaltiger Politik.

In diesem Jahr steigen die Emissionen wieder – wahrscheinlich so stark, dass das 2020er Ziel passé ist. Gleichzeitig schreibt das aktuelle Klimaschutzgesetz die Netto-Null beim CO2-Ausstoß für 2045 vor.

Drei renommierte Energie-Thinktanks haben deswegen ein "Sofortprogramm" mit schnell umsetzbaren Maßnahmen für die neue Legislaturperiode vorgeschlagen, das Deutschland in die richtige Spur bringen soll – eine Art Klima-Turbo. Stichworte daraus: Kohleausstieg bis 2030 statt 2038, keine neuen Öl- und Erdgasheizungen mehr ab 2024, Wasserstoff-Technologie in der Industrie pushen.

Die nächste Regierung, gleich in welcher Konstellation, müsse das "ehrgeizigste Klimaschutz-Sofortprogramm auf den Weg bringen, das es in Deutschland je gegeben hat", forderten Agora Energiewende, Agora Verkehrswende und Stiftung Klimaneutralität am heutigen Montag in Berlin.

Das klingt dramatisch, hat aber auch einen dramatischen Hintergrund: Für die bisher geschafften 40 Prozent CO2-Reduktion brauchte Deutschland 30 Jahre, für die restlichen 60 Prozent bis zur Netto-Null bleiben hingegen nur noch gut 23 Jahre.

Die Thinktanks rechnen vor: Um auf den richtigen Pfad zu kommen, muss Deutschland vom Jahresausstoß, der 2020 rund 739 Millionen Tonnen betrug, künftig jährlich 30 bis 40 Millionen Tonnen CO2 einsparen, während in den letzten Jahren im Schnitt jeweils nur etwa 14 Millionen Tonnen geschafft wurden. "Die nächste Bundesregierung wird daher ihre Klimaschutzanstrengungen gegenüber dem Status quo etwa verdreifachen müssen", so die Analyse.

Jährlich 30 Milliarden für einen "Klima-Haushalt"

Das Sofortprogramm, das die drei Denkfabriken vorlegen, enthält 22 Eckpunkte für fünf Schlüsselsektoren: Strom, Verkehr, Industrie, Gebäude und Landwirtschaft.

Die vorgeschlagenen Instrumente setzten an den wichtigsten Stellschrauben zur CO2-Minderung an. Dazu gehören ein sinkender Strompreis bei steigenden CO2-Preisen, umfassende Förderprogramme für Gebäudesanierung, Preisanreize für klimafreundlichen Verkehr, Landwirtschaft und Industrie, ein Abbau klimaschädlicher Subventionen und steuerliche Anreize.

Die Vorschläge sind laut den Thinktanks so konzipiert, dass sie in den ersten 100 Tagen nach der Regierungsbildung vom Kabinett beschlossen werden und noch im Sommer 2022 in Kraft treten können.

Die drei Organisationen plädieren dafür, als ressortübergreifende Maßnahme im Bund einen "Klima-Haushalt" aufzustellen, der zusätzlich mehr als 30 Milliarden Euro pro Jahr für Klimaschutzinvestitionen bereitstellt.

"Das kommende Jahrzehnt bis 2030 muss eine Dekade des Investierens werden: in klimaneutrale Energieversorgung, Industrieanlagen, Verkehr, Gebäudesanierung und eine Wasserstoff-Infrastruktur", sagte Agora-Energiewende-Chef Patrick Graichen. Entscheidend sei zudem, die klimafreundliche Alternative wirtschaftlich attraktiver als die fossile Variante zu machen.

"Die Wärmepumpe muss günstiger werden als die Ölheizung und das Elektroauto günstiger als der Verbrenner", ergänzte Stiftungsdirektor Rainer Baake. Um die Stromkosten zu senken, solle die EEG-Umlage schnellstmöglich abgeschafft werden.

Im Gegenzug solle der CO2-Preis bereits ab 2023 auf 60 Euro ansteigen und dann auf 80 bis 100 Euro im Jahr 2025 erhöht werden. Derzeit beträgt der CO2-Preis 25 Euro pro Tonne, für 2025 sind 55 Euro beschlossen.

Vorschläge für die fünf Schlüsselsektoren

Energie: Der jährliche Ökostrom-Ausbau wird verdreifacht – durch kürzere Genehmigungsverfahren, eine verbesserte Akzeptanz für Wind- und Solaranlagen sowie schnelleren Netzausbau. Der Kohleausstieg erfolgt bis 2030, nicht erst 2038.

Ein nationaler CO2-Mindestpreis in diesem Sektor von 50 bis 65 Euro pro Tonne, der den EU-Emissionshandel ergänzt, sichert diese Entwicklung ab.

Verkehr: Die Kfz-Steuer wird umgestellt, sie orientiert sich nur noch am CO2-Ausstoß. Die Besteuerung von Dienstwagen wird ökologisch reformiert, die Privilegierung von Diesel beendet. Der Umstieg auf Elektromobilität wird durch einen Masterplan für den Ausbau der Ladeinfrastruktur gefördert.

Im öffentlichen Verkehr beschleunigt ein eigenes Investitionsförderprogramm die Elektrifizierung. Mobilität in den Städten wird vom privaten Pkw stärker auf ÖPNV, Rad und Fuß verlagert, Tempo 30 wird dort Regelgeschwindigkeit.

Für den Bundesverkehrswegeplan wird ein Klimastresstest eingeführt: Alle Projekte werden danach bewertet, ob sie mit den Klimazielen vereinbar sind.

Industrie: Bis 2030 wird rund die Hälfte der Anlagen in der Stahl-, Chemie- und Zementindustrie durch klimaneutrale Technologien ersetzt, etwa Wasserstoff. In der Grundstoffindustrie wird dies über Klimaschutzverträge, sogenannte Carbon Contracts for Difference, gefördert, mit denen die Differenzkosten zwischen der klimaneutralen Technologie und den am Markt erzielbaren Erlösen ausgeglichen werden.

Eine neue "Wasserstoffstrategie 2.0" legt den Fokus auf einen raschen Aufbau von Erzeugungskapazitäten und die Finanzierung eines Wasserstoff-Startnetzes.

Gebäude: Die Fördermittel für neue Heizungen und Wärmedämmung werden erhöht und neu ausgerichtet, die energetischen Standards angehoben und die CO2- und Sanierungskosten sozial ausgewogen zwischen Mietern und Vermietern aufgeteilt.

Ab 2024 wird der Einbau fossiler Heizungsanlagen verboten und für Neubauten und bei Dachsanierungen eine Solarpflicht eingeführt. Der klimaneutrale Neubau und die klimaneutrale Gebäudesanierung werden jährlich mit zwölf Milliarden Euro gefördert.

Landwirtschaft: Ziele sind weniger Tiere, mehr Tierwohl, gute Ernährung und stabile Einkommen der Landwirte. Der Konsum von Fleisch und anderen tierischen Produkten sinkt, damit einhergehend die Tierhaltung in Deutschland und die Nutzung mineralischer Düngemittel.

Eine Moorschutzstrategie wird aufgelegt, deren Ziel die weitgehende Wiedervernässung der trockengelegten Flächen bis 2045 ist.

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