Porträtaufnahme von Andreas Knie.
Andreas Knie. (Foto: David Außerhofer)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Andreas Knie, Sozialwissenschaftler mit den Schwerpunkten Wissenschaftsforschung, Technikforschung und Mobilitätsforschung.

Klimareporter°: Herr Knie, Ende des Monats läuft das Neun-Euro-Ticket aus – es gilt inzwischen als eine Art unfreiwilliges verkehrspolitisches Großexperiment. Was hat es für Sie an Erkenntnissen gebracht, die Sie vorher nicht für möglich gehalten haben? 

Andreas Knie: Dass wir eine so hohe Resonanz auf das Neun-Euro-Ticket erlebt haben, das hat alle doch überrascht. Der öffentliche Nahverkehr war plötzlich in aller Munde, Busse und Bahnen wurden gleichsam über Nacht cool. Wann haben wir das schon mal erlebt?

Ein zweiter Effekt war, dass Haushalte mit geringem Einkommen in den drei Monaten wirklich mit Kind und Kegel unterwegs waren. Sozialtickets sind mit durchschnittlich 45 Euro zwar vergleichsweise günstig, aber für fünf Menschen sind das weit mehr als 200 Euro im Monat. Jetzt kostet der Spaß für sie alle nur 45 Euro. Das hat für viele Menschen völlig neue Horizonte eröffnet.

Überraschend ist aber auch die nörgelnde Grundhaltung der Branche des öffentlichen Verkehrs über zu viele Kunden, zu volle Züge und zu viele Überstunden. Welche andere Branche beschwert sich, wenn ihre Produkte plötzlich nachgefragt werden? Das zeigt das ganze Elend der öffentlichen Verkehrsunternehmen.

Der Pegelstand des Niederrheins fiel diese Woche unter die Nullmarke – wieder mal ein Rekordtief. Das droht die gesamte Rheinschifffahrt lahmzulegen. Verkehrsminister Wissing will jetzt die Fahrrinne weiter vertiefen. Ist das sinnvoll?

Da springt der Minister wieder mal zu kurz. Wenn kein Wasser mehr kommt, dann kann man so viel baggern, wie man will. Die Fahrrinnen zu vertiefen ist ein Herumdoktern an Symptomen.

Wir brauchen im Güterverkehr eine dramatische Marktverschiebung vom Lkw auf die Verkehrsträger Schiene und Wasser. Dies gelingt nur durch eine drastische Verteuerung von Sprit und Infrastrukturnutzung.

Klar werden die Produkte dann teurer. Aber besser das als endlose Trockenheit, die unter anderem dadurch verursacht wird, dass wir viel zu stark auf das Auto fokussiert sind.

Dass Wetterextreme wie Hitze und Dürre Teile der Infrastruktur Deutschlands an den Rand des Zusammenbruchs bringen, ist eine neue Folge des Klimawandels. Was muss geschehen, damit die Infrastruktur künftig klimaresilienter wird?

Wir brauchen dringend ein Moratorium beim Ausbau der Verkehrsinfrastrukturen. Wir versiegeln allein in Deutschland jeden Tag die Fläche von 20 Fußballfeldern, um neue Straßen, Parkplätze und andere Verkehrsinfrastruktur zu bauen.

Die permanente Absenkung des Raumwiderstandes, um Menschen und Güter möglichst rasch, einfach und billig quer über den Globus zu schaffen, kommt an seine Grenzen. Irgendwann ist dann alles zubetoniert. Der Verkehr ist nicht nur CO2-Emittent Nummer eins, er zerstört auch die Ökosysteme durch seinen enormen Flächenverbrauch.

Nötig ist eine stärkere Orientierung an regionalen Wirtschaftskreisläufen. Die Pandemie hat gezeigt, dass dies möglich ist. Müssen wir mehrmals im Jahr eine Fernreise mit dem Flieger unternehmen? Brauchen wir Bier aus Australien oder das ganze Jahr Avocados aus Mexiko? Wir können unseren Lebensstil ändern und müssen dafür nicht mit Fellen auf Bäumen hocken.

In der Debatte um längere AKW-Laufzeiten oder gar einen Wiedereinstieg in die Atomkraft erinnern viele daran, wie lange in Deutschland für den Ausstieg gekämpft wurde und warum. Wie haben Sie das Ringen um den Atomausstieg erlebt – und könnten Sie sich mit einem sogenannten Streckbetrieb der letzten drei AKW anfreunden?

Es gehört zu den großen Errungenschaften des letzten Jahrzehnts, den großen Irrtum der Atomkraft zu erkennen und sich von dieser teuflischen Energiequelle zu befreien. Der aktuelle Anteil der noch verbliebenen AKW für die Energiegewinnung kann durch Einsparungen kompensiert werden, und zwar von der Industrie, dem Verkehr und den privaten Haushalten.

Alle sind sich der außergewöhnlichen Herausforderungen bewusst, Menschen können in Krisenzeiten über sich hinauswachsen. Dieses Potenzial nicht zu nutzen, sondern auf toxische Technologien zu setzen, das ist sicherlich eines der größten Versäumnisse der aktuellen Regierungskoalition.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Dass die Branche des öffentlichen Verkehrs eingeschlafen ist. Aufwachen, bitte! Der Ball liegt auf dem Elfmeterpunkt und es bleibt nur noch wenig Spielzeit. Die Menschen fahren endlich wieder Bus und Bahn, also: nicht verzagen, nicht über volle Züge lamentieren und sich über Überstunden mokieren und auch keine Beschwerde, dass jetzt die Züge alle abgenutzt werden.

Vielmehr gilt es die Gunst der Stunde zu nutzen: Heraus aus dem Schneckenhaus der Bruttoverträge, jetzt könnte man politisch offensiv argumentieren. Aber was passiert? Die Branche nörgelt an allem herum. Das bedeutet: Die Modernisierung von Bussen und Bahnen darf man leider nicht der Branche selbst überlassen.

Fragen: Jörg Staude

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