Block 4 und Block 5 des Erdgaskraftwerks Irsching in Vohburg an der Donau.
Der Betrieb von Gaskraftwerken wie hier in Bayern, der eigentlich die Spitzenlast abdecken soll, wird teuer. (Bild: Ma. Gr. 1234/​Wikimedia Commons)

Klimareporter°: Herr Dullien, Sie befürworten einen Brückenstrompreis, von dem stromkostenintensive Branchen profitieren sollen, die im internationalen Wettbewerb stehen. In einem gemeinsamen Beitrag unter anderem zusammen mit dem Chef des Instituts der Deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, beklagen Sie zugleich Missverständnisse und Fehlwahrnehmungen, mit denen der Brückenstrompreis verbunden sei.

Der Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi, Frank Werneke, lehnte jetzt einen subventionierten Industriestrom mit folgendem Argument ab: Es hätte eine enorme Sprengkraft, wenn ein Bürger, der mit Mindestlohn gerade so über die Runden kommt, für seinen Strom 35 Cent pro Kilowattstunde zahlen muss, während die Großindustrie dank staatlicher Subventionen nur fünf oder sechs Cent zahlt und auch ihre Aktionäre weiter bedient.

Wie sieht Ihre Antwort jetzt aus?

Sebastian Dullien: Zunächst einmal sollten wir die Begriffe auseinanderhalten. Wir als IMK haben uns für einen Brückenstrompreis ausgesprochen. Wir haben dabei darauf hingewiesen, welche Probleme hohe und volatile Strompreise für die Industrie bereiten, und uns für Maßnahmen ausgesprochen, die dieses Problem abmildern, bis ausreichend günstiger Strom aus erneuerbaren Quellen zur Verfügung steht.

Darüber hinaus hat Frank Werneke aber recht: Der hohe und volatile Strompreis ist ein Problem nicht nur für die Industrie, sondern auch für andere energieintensive Bereiche und letztlich auch ein soziales Problem für die Privathaushalte.

Sebastian Dullien

ist promovierter Volks­wirt­schaftler und war Redakteur der 2012 ein­gestellten Financial Times Deutsch­land. Seit 2007 war er Professor für Allgemeine Volks­wirtschafts­lehre an der HTW Berlin. Seit 2019 ist er Wissen­schaftlicher Direktor des Instituts für Makro­ökonomie und Konjunktur­forschung (IMK) in der gewerk­schafts­nahen Hans-Böckler-Stiftung.

Die Idee des Brückenstrompreises ist angelehnt an die Strompreisbremse. Warum ist die Strompreisbremse eingeführt worden? Ein Grund ist: In Deutschland haben wir im Moment ein relativ dysfunktionales Strommarktdesign.

Dazu kam dann der durch den Gasmangel ausgelöste Energiepreisschock, der seinerseits zu Verwerfungen im Energiemarkt führte.

Ein Instrument, um dieses Problem zu lösen, ist der Brückenstrompreis, wer auch immer ihn am Ende bekommt. Er ist aber auch keine silver bullet, kein Allheilmittel.

Beim Strommarkt haben wir uns als IMK in dem Zusammenhang schon sehr für staatliche Eingriffe ausgesprochen und zur Bewältigung der Energiepreiskrise zum Beispiel das iberische Modell befürwortet.

Bei diesem Modell subventioniert Spanien vorerst noch bis Ende 2023 Erdgas, das in der Verstromung eingesetzt wird. Weil Gasstrom der teuerste von allen ist und sich danach der Strompreis am Markt für alle richtet, kann über billigeres Gas am Ende der Strompreis insgesamt gesenkt werden.

Als weitere Maßnahme gegen hohe Strompreise muss auch der Ausbau der erneuerbaren Energien massiv beschleunigt werden. Das gehört zu einem Gesamtpaket, um absehbar bezahlbaren Strom zu haben, und den nicht nur für die Industrie.

Damit die Struktur der deutschen Wirtschaft keinen Schaden nimmt, müssen wir für eine Übergangszeit aber die Marktkapriolen ausbremsen. Der Brückenstrompreis soll das Risiko überschießender Strompreisen abfangen und Planungssicherheit geben, nicht nur für die nächsten drei Monate, sondern am besten für die nächsten Jahre.

Das würde auch den privaten Haushalten Sicherheit geben beispielsweise bei der Frage, ob man eine Wärmepumpe einbaut.

Bleiben wir beim Design des Strommarkts. Unbestritten ist ja, dass der teure Strom aus Erdgas den Strompreis am Markt bestimmt – wegen des sogenannten Merit-Order-Effekts. Es wäre doch also wirklich logisch, den Preis des in der Verstromung eingesetzten Erdgases zu senken und nicht das Produkt selbst, den Strom, zu subventionieren?

Das allein würde aber nicht reichen, um den Strompreis ausreichend zu senken. Es würde aber die Wahrscheinlichkeit verringern, dass ein Brückenstrompreis greifen muss. Dessen Kosten für den Staatshaushalt wiederum könnten so sinken.

Es ist noch darüber zu reden, wie man das finanziert, beispielsweise über eine Gewinnabschöpfung oder eine Übergewinnsteuer.

Das sind sehr dicke Bretter. Dazu gibt es auch auf europäischer Ebene viele Debatten. Die Bundesregierung ist bisher auch wenig bereit, im Sinne des iberischen Modells in den Strommarkt einzugreifen.

Von den erwähnten Kapriolen beim Strompreis ist doch die energieintensive Industrie gar nicht so betroffen. Diese Großverbraucher haben ja langfristige Lieferverträge mit kalkulierbaren Preisen und sichern sich darüber hinaus auch gegen Preisausschläge ab. Darüber hinaus genießen sie seit Langem Privilegien bei der Stromsteuer und den Netzentgelten.

Für 2024 wird derzeit an der Strombörse ein Preis von 13 bis 15 Cent für die Kilowattstunde vorausgesagt. Wissen wir denn überhaupt genau, was energieintensive Unternehmen kommendes Jahr wirklich zahlen werden?

Entscheidend ist nicht nur die Höhe des Preises heute oder in einem Jahr. Wenn ein Unternehmen über eine Ersatzinvestition nachdenkt oder Prozesse elektrifizieren will, muss es eine Idee davon haben, wo sich der Strompreis 2025 oder 2026 bewegt.

Die entsprechenden Future-Märkte an den Strombörsen sind aber nicht dazu geeignet, ein entsprechendes Preissignal zu geben. Das gilt auch für energieintensive Unternehmen. Diesen soll der Brückenstrompreis die nötige Planungssicherheit verschaffen. Darum geht es.

Die Ampel soll inzwischen von einer direkten Subvention des Strompreises für Energieintensive abrücken und eine Erhöhung der Strompreiskompensation bevorzugen. Mit dieser werden Hunderten energieintensiven Industriefirmen die Kosten erstattet, die ihnen entstehen, weil sie Emissionsrechte für ihre eigene Stromerzeugung kaufen müssen. Die Kompensation könnte nun ausgeweitet werden, um die steigenden Stromkosten auszugleichen. Was halten Sie davon?

Diese Maßnahmen senken die Stromkosten der Industrie, lösen aber nicht das Problem der Planungssicherheit. Letzteres ist aber derzeit zentral für die Transformation der bestehenden Industrien durch Ersatzinvestitionen.

Als wichtigste Maßnahme, um den Strompreis in Deutschland dauerhaft zu senken, gilt der massive Ausbau der Erneuerbaren, vor allem von Windkraft und Photovoltaik.

Die SPD hat dazu vorgeschlagen, erneuerbare Stromerzeuger in großen "Pools" zusammenzufassen. Aus diesen sollen energieintensive Unternehmen dann ihren Strom beziehen und natürlich auch den Preisvorteil für sich nutzen. Ist das nicht ein Versuch, die künftige Dividende der erneuerbaren Energien umzuverteilen?

 

Man muss schon beachten, dass die energieintensive Industrie sich in einer anderen Situation befindet als beispielsweise eine Großbäckerei. Diese steht nicht im internationalen Wettbewerb.

In Deutschland muss man sich sehr genau über die Frage klar werden: Zwar sind einige Industriezweige aus verschiedenen Gründen energieintensiv – wollen wir diese aber dennoch im Lande behalten?

Wenn andere Länder günstige Strompreise bieten – teilweise aus erneuerbaren und teilweise aus nicht erneuerbaren Quellen – und es gilt Freihandel und in Deutschland schlagen die Kosten der Energietransformation voll durch, dann wandert ein Teil der Industrie ab oder produziert woanders oder importiert dann die Vorprodukte. Dem Weltklima wäre so kein bisschen geholfen.

Dazu drohen strategische Abhängigkeiten. Wenn unsere Düngemittel nur noch aus Russland, China und den USA kommen, hätte ich damit ein Problem und halte eine teilweise Subventionierung einer solchen Industrie für sinnvoll.

Dünger ist ein gutes Beispiel. Gerade erst mahnten Klimaforscher, dass beim Düngereintrag in die Böden, vor allem von Stickstoff und Phosphor, die planetare Grenze überschritten ist und wir den Einsatz von Düngemitteln reduzieren müssen.

Möglicherweise muss Deutschland ja eine eigene Düngerproduktion behalten, aber nicht in dem Umfang wie bisher. Ähnliches gilt ja auch für Stahl oder Aluminium, wo ein Strukturwandel ansteht, nicht nur hin zu grüner Produktion, sondern aus Gründen des Klimas auch zu weniger.

Wir müssen sehen, wie weit wir bei einem effektiv gemanagten und dekarbonisierten Stromsystem mit dem Preis hinkommen. Dahin müssen wir eine Brücke bauen.

Daneben müssen wir sehen, wo wir aufgrund drohender strategischer Abhängigkeiten eine Grundstoffproduktion im Land behalten möchten. Reicht die "Brücke" nicht, um das zu sichern, müssen weitere Maßnahmen überlegt werden.

Und was ist mit der von der SPD de facto geforderten "Reservierung" des günstigen Wind- und Solarstroms für die Industrie?

Das Stromsystem sollte langfristig nicht so konstruiert werden, dass der billige Strom nur an die Industrie geht und der "Rest" teuren Strom bekommt und bezahlen muss. Für mich müssen alle in den Genuss der Durchschnittspreise eines dekarbonisierten Energiesystems kommen. Da müssen wir über einige Dinge nachdenken.

So werden wegen des großen Angebots an Solarstrom über die Mittagszeit die Gaskraftwerke immer weniger angeworfen. Deren Betrieb, der gerade die Spitzenlast abdecken soll, wird damit teurer. Bleibt es beim derzeitigen Strommarktmodell, läuft das auf enorme zeitweise Extragewinne in Teilen der Energieerzeugung und damit auf eine Umverteilung von den Verbraucherinnen und Verbrauchern zu den Stromproduzenten hinaus.

Für mich stellt sich da schon die Frage: Warum wird die Erzeugung von Spitzenlaststrom nicht staatlich organisiert und wir finanzieren das über eine Abgabe auf jede verkaufte Kilowattstunde?

Über das künftige Design des Strommarktes wird ja derzeit auf der Plattform Klimaneutrales Stromsystem unter Führung des Wirtschaftsministeriums diskutiert. Soweit bekannt, hat dort bisher niemand die Idee vertreten, den Spitzenlaststrom nicht mehr von privaten, sondern von staatlichen Erzeugern bereitzustellen.

Konsens zwischen Regierung, Strombranche und Großverbrauchern ist doch nach wie vor, dass Strom möglichst frei gehandelt werden soll – auch wenn es am Ende nur ein virtueller Handel ist, der abgekoppelt von den realen Stromflüssen stattfindet. Elektronen interessieren sich nun einmal nicht für Handelskontrakte und spekulative Käufe an der Strombörse.

Mir liegt fern, die Politik der Bundesregierung bei der Frage des Strommarktdesigns zu verteidigen, sondern ich will aufzeigen, was eigentlich passieren müsste. Auch das iberische Modell ist ja von der Bundesregierung abgelehnt worden, obwohl das in Spanien respektable Ergebnisse produziert hat.