Viele Windräder vor einem Hintergrund aus Nullen und Einsen, oben leuchtet eine leiterplattenähnliche Struktur, alles in futuristisches Grün getaucht.
Mehr Grünstrom auf dem Papier, aber nicht im richtigen Leben: Wer hat es bemerkt? (Foto: Ink Media/​Freeimages/​Flickr)

Dieser Tage habe ich nun doch, wenn auch schweren Herzens, den Stromanbieter gewechselt. Der Haushalt, in dem ich lebe, verbraucht im Jahr nur um die 1.200 Kilowattstunden.

Weil das deutsche Stromtarif-System mit seinem Grundpreis Stromsparer bestraft, bezahlt mein Haushalt für jede Kilowattstunde deutlich mehr als die derzeit im Schnitt schon geltenden rekordverdächtigen 32 Cent. Und auf diesen Überpreis wollte der Anbieter nochmal schätzungsweise 20 Prozent aufschlagen.

Dank des Wechsels wird sich mein Haushaltsstrom für die nächsten Monate erstmal nicht verteuern. Zu dem Preis fand sich sogar noch ein Tarif mit OK-Power-Gütesiegel. Das bescheinigt dem Strom einen Zusatznutzen für Umwelt und Energiewende.

Auf solche Siegel zu achten, könnte künftig noch wichtiger werden. Und schuld daran könnte die Europäische Union sein.

Zur Erklärung ist ein wenig auszuholen. 2019, im letzten Vor-Pandemie-Jahr, erzeugte Deutschland rund 237 Milliarden Kilowattstunden erneuerbaren Stroms. Etwa 211 Milliarden davon, also fast 90 Prozent, stammten dabei aus Anlagen, die über das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) gefördert werden.

Dieser Strom ist zwar öko, kann aber qua Gesetz in Deutschland nicht als Ökostrom verkauft werden. Das liegt am sogenannten Doppelvermarktungsverbot. Dahinter steht die Überlegung, dass die Verbraucher per EEG-Umlage die grüne Eigenschaft des Stroms bereits bezahlt haben – und so darf die wertvolle Eigenschaft "öko" nicht noch einmal an die deutschen Stromkunden "vermarktet" werden.

Kaum Nutzen für die Energiewende

Für EEG-Strom dürfen deshalb in Deutschland keine sogenannten Herkunftsnachweise (HKN) ausgestellt werden. Das ist nur den Nicht-EEG-Anlagen erlaubt, die 2019 eben – wirklich grob gerechnet – die "restlichen" rund 26 Milliarden Kilowattstunden erneuerbaren Strom beisteuerten. Die meisten Herkunftsnachweise stammen in Deutschland aus alten Wasserkraftwerken und nur wenige aus neuen Solar- und Windkraftwerken – aber das nur nebenbei.

Nur zusammen mit einem Herkunftsnachweis darf Strom in Deutschland als Ökostrom gelabelt und im öffentlichen Netz über einen Ökostromtarif verkauft werden. Dabei ist es egal, wie der Strom erzeugt wurde.

Die in Deutschland selbst verfügbare HKN-Menge ist viel zu gering, damit sich alle hiesigen Stromanbieter mit Ökostromtarifen schmücken und große Wirtschaftsunternehmen damit werben können, sie würden nur nachhaltigen Grünstrom nutzen.

Bereits 2017 wurden in Deutschland Herkunftsnachweise in einem Umfang eingesetzt, dass sich damit rechnerisch rund 95 Milliarden Kilowattstunden Ökostrom erzeugen ließen. Schon zu der Zeit beruhten viele deutsche Ökostromprodukte "nur auf ausländischen Zertifikaten" und hatten für die Energiewende kaum einen positiven Effekt, wie das Umweltbundesamt (UBA) vor zwei Jahren in einer Analyse beklagte.

Denn meistens wird mithilfe der Herkunftsnachweise preiswert an der Strombörse eingekaufter Strom, darunter auch aus fossilen Quellen, umetikettiert und als "öko" an die Kunden gebracht – mit entsprechendem Aufschlag, der nicht selten deutlich über den Kosten für die HKN liegt.

Allerdings steht Deutschland mit dem Doppelvermarktungsverbot in der Europäischen Union inzwischen ziemlich allein da. In den allermeisten EU-Ländern dürfen auch für geförderten Ökostrom Herkunftsnachweise ausgestellt werden.

Herkunftsnachweise auch für EEG-Strom

Den neuesten Versuch, die deutsche Sonderstellung zu beenden, unternimmt die EU-Kommission nun mit dem im Juli vorgelegten Entwurf zur dritten Erneuerbare-Energien-Richtlinie, englisch Renewable Energy Directive, kurz RED III.

Wird der Entwurf so angenommen, können sich künftig in der EU alle Erzeuger erneuerbarer Energien, ob gefördert oder nicht, Herkunftsnachweise ausstellen lassen. Die Kommission will den EU-Ländern nur die Möglichkeit einräumen, den Marktwert der HKN zu berücksichtigen, wenn Erzeuger eine finanzielle Unterstützung erhalten. Das heißt: Die Staaten könnten dann die Einnahmen, die die Stromerzeuger mit den Herkunftsnachweisen erzielten, von der Förderung abziehen.

Bei der geplanten "Freigabe" der Herkunftsnachweise für alle – nicht nur für neue, sondern auch für bestehende Anlagen – geht es um enorme Strommengen. In Deutschland würde auf einen Schlag der gesamte EEG-Strom dazukommen. 2020 waren das rund 220 Milliarden Kilowattstunden. 40 Prozent der gesamten deutschen Stromerzeugung würden damit HKN-fähig.

In der erwähnten UBA-Analyse für 2017 ist zu lesen, in Europa gebe es 200 Milliarden erneuerbare Kilowattstunden, für die Herkunftsnachweise ausgestellt werden könnten, worauf die Betreiber jedoch in dem Jahr noch verzichteten. Warum sie das taten, sagt die UBA-Studie an der Stelle nicht – würden für den Strom aber HKN ausgestellt, hätte damit eine gut 30-prozentige Nachfragesteigerung nach Ökostrom gedeckt werden können, ohne dass ein einziges Kilowatt an erneuerbarer Erzeugung hätte hinzukommen müssen.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: EU-weit lässt sich aus einer Megawattstunde erneuerbaren Stroms genau ein Herkunftsnachweis generieren – sofern nicht, wie in Deutschland, geförderter Strom davon ausgenommen ist. Wird die eine Megawattstunde dann als Ökostrom verkauft, muss auch ein HKN entwertet werden.

Das gewährleistet zwar, dass nur so viel Strom "grün" gelabelt wird, wie Herkunftsnachweise vorhanden sind, setzt aber keine Anreize in Richtung Energiewende. In der EU werden mit dem HKN-Geschäft der "saubere" und der "schmutzige" Strom nur virtuell anders verteilt, der Effekt auf die CO2-Emissionen ist gleich null. Ein klimapolitisches Plus, wie es ein echter grüner Stromtarif garantiert, ist nicht zu erkennen.

"Das würde förderfreie Öko-Kraftwerke ausbremsen"

Interesse an einer HKN-Schwemme haben offenbar vor allem Industrieunternehmen, die bei geringen Kosten ihren Stromeinsatz dann als grün und nachhaltig präsentieren. Aber auch Betreiber, die viele EEG-Anlagen haben, könnten zusätzlich zur Förderung Gewinne generieren.

Die HKN-Freigabe im RED-III-Entwurf habe das Potenzial, den deutschen Strommarkt "mit Greenwashing-Produkten zu überschwemmen", kritisieren jetzt die Ökostromer EWS, Green Planet Energy und Naturstrom in einer gemeinsamen Erklärung. Die drei Grünstromfirmen sehen deshalb den Richtlinien-Entwurf "äußerst skeptisch".

"Sollten künftig für Strom aus EEG-vergüteten Anlagen Herkunftsnachweise ausgestellt werden, sinkt der Wert solcher Zertifikate ins Bodenlose", warnt Naturstrom-Chef Thomas Banning. "Das würde nicht nur Greenwashing-Tarifen Tür und Tor öffnen, sondern auch die gerade beginnende Entwicklung förderfreier Öko-Kraftwerke massiv zurückwerfen, die sich auch über ihre Herkunftsnachweise finanzieren."

Neue EEG-Anlagen müssen zudem befürchten, dass ihnen die HKN-Erlöse – was der RED-III-Entwurf eben ermöglicht – auf die Förderung angerechnet werden. Das käme vor allem der deutschen Politik zupass, die quer durch die Parteien die EEG-Kosten als zu teuer brandmarkt.

"Nur wer für den Ökostrom zahlt, darf sich die grüne Eigenschaft anrechnen lassen", betont auch Constantin Zerger, Energieexperte bei der Deutschen Umwelthilfe (DUH). Im Fall der geförderten Anlagen sind dies vor allem die privaten Haushalte über die von ihnen gezahlte EEG-Umlage. "Für diese Anlagen dürfen deshalb auch weiterhin keine Herkunftsnachweise ausgestellt werden", fordert Zerger. "Ansonsten kämen wir in Deutschland zu einer doppelten Anrechnung der Grünstromeigenschaft. Das wäre absurd."

Greenwashing auch beim Wasserstoff befürchtet

Massenhaft neue und billige Herkunftsnachweise könnten in den Augen der hiesigen Politik aber auch einem anderen Mangel abhelfen – dem an Ökostrom, um die Herstellung von "grünem" Wasserstoff zu pushen. Auch das gefällt den Ökostromern ganz und gar nicht.

"Wasserstoff darf nur dann als grün anerkannt werden, wenn er nachweisbar mit erneuerbaren Energien hergestellt wurde. Herkunftsnachweise allein genügen nicht, um die nötige grüne Qualität zu garantieren", fordert Sönke Tangermann, Vorstand von Green Planet Energy.

Für die Produktion von grünem Wasserstoff müssen aus seiner Sicht zusätzliche Ökostrommengen in Deutschland und Europa bereitgestellt werden. "Zudem muss der zeitliche und räumliche Zusammenhang der Produktion des erneuerbaren Stroms und des Wasserstoffs nachgewiesen werden", ergänzt er. Anderenfalls würde die geplante H2-Produktion mit fossilen Energieträgern erfolgen. "Das würde die Klimakrise anheizen", warnt Tangermann

Auch DUH-Experte Zerger findet es völlig richtig, zum Nachweis der grünen Eigenschaft des zur Wasserstofferzeugung eingesetzten Stroms nicht allein auf die HKN zu setzen. Hier gebe es ein Potenzial für Greenwashing, wie man es aus anderen Anwendungsbereichen der Herkunftsnachweise schon kenne.

Zerger: "Wir müssen auf jeden Fall sicherstellen, dass der Strom für die Wasserstoff-Elektrolyseure zusätzlich erzeugter erneuerbarer Strom ist – und es möglichst eine regionale und zeitliche Verbindung gibt."

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