Zahlreiche Umfragen und Ökonomen-Rankings der vergangenen zwei Dekaden sahen Hans-Werner Sinn als den einflussreichsten Wirtschaftswissenschaftler Deutschlands. (Bild: Alessandra Schellnegger)

Wohl kein Ökonom durfte sich in den letzten zwei Jahrzehnten über so viele Talkshowauftritte und Interviewanfragen freuen wie Hans-Werner Sinn. 1999 wurde der Herr mit der stets fein konturierten Schifferkrause auf Wunsch des CSU-Politikers Otto Wiesheu Präsident des Münchner Ifo Instituts für Wirtschaftsforschung.

Wenn irgendwo eine arbeitgeberfreundliche Position oder eine steile These gegen Sozialpolitik gebraucht wurde, dann klingelte das Telefon bei Hans-Werner Sinn.

Seit dem Ende seiner Ifo-Präsidentschaft 2016 ist es um Sinn etwas ruhiger geworden, aber sicherlich nicht still. Auch deshalb nicht, weil Sinn ein neues Lieblingsthema gefunden hat – die deutsche Klima- und Energiepolitik.

Schon in seinem viel beachteten und viel kritisierten Buch "Das grüne Paradoxon" von 2008 teilte er heftig gegen die deutsche Klimapolitik aus. Und wie jüngst veröffentlichte Gastbeiträge und Interviews von und mit Sinn belegen, hält der 76-Jährige auch heute noch an denselben, höchstens kosmetisch angepassten Thesen fest.

Sinns Behauptungen wurden in den vergangenen Jahren immer wieder entkräftet. Doch die traurige Wahrheit der Aufmerksamkeitsökonomie ist, dass das bessere Argument die Zeit nicht unbeschadet überdauert. Stattdessen verkleben sich die Aussagen von reichweitenstarken Personen wie Herrn Sinn in der Öffentlichkeit, besonders wenn sie Jahr für Jahr wiederholt werden.

Was sind nun also die Thesen von Hans-Werner Sinn?

These 1: Eine Stromversorgung basierend auf Erneuerbaren ist nicht möglich

Authentische und orchestrierte Zweifel an der Energiewende sind so alt wie die Energiewende selbst. Vor über 30 Jahren argumentierte die Energiewirtschaft, dass auch langfristig nicht mehr als vier Prozent Strom aus "Sonne, Wasser oder Wind" möglich sein werden.

Dieser Mythos hielt sich so lange, bis ihn die Realität ad acta legte. Beziehungsweise: Der Mythos besteht bis heute fort, nur der vermeintliche Schwellenwert schraubte sich zeitverzögert zu der Tatsächlichkeit immer weiter nach oben.

Wenn überhaupt, könne bis 2035 höchstens die Hälfte der Stromversorgung mit Erneuerbaren sinnvoll abgedeckt werden, erklärte Sinn noch vor zehn Jahren.

Dass die Erneuerbaren in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres rund 56 Prozent der Stromerzeugung abdeckten – darauf wurde Sinn in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt vor wenigen Wochen hingewiesen –, ließ der Ökonom nicht gelten. Da seien schließlich die noch bevorstehenden "weihnachtlichen Dunkelflauten" nicht einberechnet.

Mittlerweile liegen die Zahlen für das gesamte Jahr vor. Laut dem Thinktank Agora Energiewende kommen Erneuerbare auf einen Anteil von 55 Prozent. Nach Angaben des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE) machte der Grünstrom sogar knapp 63 Prozent der öffentlichen Stromversorgung aus. Ganz so desaströs waren die weihnachtlichen Dunkelflauten also wohl nicht.

Sinns Lösung für das nonexistente Erneuerbaren-Problem ist, wie er Ende November in der Tageszeitung FAZ wieder einmal betonte, die 17 stillgelegten deutschen Kernkraftwerke wieder ans Netz zu nehmen. Wobei vollkommen unklar ist, welche Lücke damit in einem grünen Strommix gefüllt werden soll.

Kernkraftwerke seien die "unflexibelsten Kraftwerke überhaupt", erklärt der Dietmar Schüwer vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. In einem System, das von "kostengünstigen erneuerbaren Stromquellen" dominiert wird, ist für den Energieexperten schlicht kein Platz für Atomkraft.

Stefan Thomas, Abteilungsleiter Energiepolitik beim Wuppertal Institut, fügt hinzu: "Mit Speichern aller Art, flexibler Nachfrage und flexiblen Wasserstoff- oder Biomassekraftwerken wird ein Stromsystem, das überwiegend auf Photovoltaik und Wind basiert, mindestens ebenso versorgungssicher und deutlich kostengünstiger sein als Atomkraft und CCS." Das hätten Szenarioanalysen gezeigt.

Die Atomkraft ist eine der teuersten Stromquellen, während Wind- und Solarenergie über diverse Analysen hinweg die niedrigsten Stromgestehungskosten aufweisen.

Aber Sinn will nicht nur Atomkraft revitalisieren, sondern auch Erdgas von seinem schmutzigen Image befreien. Der fossile Brennstoff sei "umweltökonomisch" sinnvoll. "Die Energie, die man aus dem Kohlenwasserstoff Erdgas gewinnt, kommt nur zur Hälfte aus der Verbrennung von Kohlenstoff. Die andere Hälfte entsteht aus der Verbrennung von Wasserstoff, bei der kein CO2 entsteht."

Dieser Chemie-Crashkurs lässt doch einiges außen vor. Auch Erdöl ist ein Kohlenwasserstoff. Bei der Verbrennung von Erdöl entstammt also ebenso ein Teil der Energie der Oxidation von Wasserstoff-Atomen. Das macht natürlich weder Erdöl noch Erdgas klimafreundlich.

Laut dem Umweltbundesamt entsteht bei der Verbrennung von Erdgas etwa ein Viertel weniger CO2 als bei der Verbrennung von Erdöl. Das sind also immer noch beträchtliche Mengen. Aber das viel größere Problem: Erdgas besteht zu beinahe 100 Prozent aus Methan, einem sehr potenten Treibhausgas.

Da Methan bei der Förderung und dem Transport von Erdgas zu einem gewissen Anteil unverbrannt in der Atmosphäre landet, kamen diverse Studien zu dem Ergebnis: Erdgas ist unterm Strich klimaschädlicher als Erdöl und in etwa so klimaschädlich wie Kohle. Diese lange bekannten Fakten fehlen in Sinns Ausführungen bedauerlicherweise.

These 2: Die Wärmeversorgung auf Strom umzustellen ist unnötig und gefährlich

Nicht nur im Stromsektor, sondern auch bei der Wärmeversorgung setzt Sinn auf Erdgas. Vor allem aber musste er im Welt-Interview erstmal seinem Unmut über die Wärmewende Luft machen.

Das Heizungsgesetz sei ein "krankhafter Auswuchs einer zentralplanerischen Denkweise" und der von manchen Städten geplante Rückbau der Gasnetze ein "Akt mutwilliger Zerstörung". Von der Politik forderte er, gasbetriebene Wärmepumpen zu empfehlen.

Wenig Verständnis dafür hat Stefan Thomas vom Wuppertal Institut. Gasbetriebene Wärmepumpen seien nur etwa 30 Prozent effizienter als Brennwertkessel, also einer der konventionellen Gasheizungstypen. Energieexperte Dietmar Schüwer ergänzt, dass auch eine Gas-Wärmepumpe, umgerüstet auf grünen Wasserstoff, ähnlich ineffizient wäre wie eine Nachtspeicherheizung.

Tauscht man Wasserstoff durch synthetisches Methan aus, ist die Heizung nochmal deutlich ineffizienter. "Die Elektro-Wärmepumpe ist hier um den Faktor drei bis fünf energieeffizienter", so Schüwer. "Das bedeutet im Umkehrschluss, dass für den Betrieb von Wärmepumpen mit synthetischem Methan oder Wasserstoff die drei- bis fünffache Ausbauleistung an erneuerbaren Stromquellen notwendig wäre."

Wenn man den menschengemachten Klimawandel nicht leugnet – und Sinn gibt an, das nicht zu tun –, muss man anerkennen, dass das Heizen mit Gas in den nächsten Jahrzehnten enden muss. Entweder stehen dann jede Menge unnütze Gasheizungen, Gas-Wärmepumpen und Gas-Infrastruktur herum oder diese werden – so gut wie eben möglich – mit Wasserstoff oder E‑Fuels weitergenutzt.

Hans-Werner Sinn bleibt bezüglich der Weiternutzung der Gas-Infrastruktur leider unkonkret. Möglicherweise auch, weil es schlicht kein realistisches Szenario gibt, in dem Wasserstoff oder synthetische Kraftstoffe ein sinnvoller Ersatz für die direkte Elektrifizierung der Wärmeversorgung wären. Denn dann wäre die Empfehlung von Gas-Wärmepumpen statt elektrischen Wärmepumpen absurd und der geplante Rückbau des Gas-Verteilnetzes folgerichtig.

Doch ganz im Zeitgeiste der großen Verunsicherung schüttelt Sinn noch ein weiteres Totschlagargument aus dem Ärmel. Er sehe die Sicherheit in Gefahr, sollte die Wärmeversorgung zunehmend auf Strom umgestellt werden. "Mir graust es vor der Vorstellung, dass sich das Land in einem Cyberkrieg mit ein paar Mouseclicks einfrieren ließe, weil es nur noch elektrische Energie gibt."

Kurz zuvor noch gegen ein dezentrales Stromnetz und für Atomkraftwerke zu argumentieren, um dann vor mangelnder Sicherheit im Kriegsfall zu warnen, birgt eine gewisse Ironie. Stefan Thomas kommentiert entsprechend knapp: "Bei einem Stromausfall funktioniert auch keine gasbetriebene Heizung mehr."

In der Tat benötigen Gasheizungen für die Zündung, Steuerung und nicht zuletzt die Umwälzpumpe – sie regelt den Kreislauf des Heizwassers – Strom.

These 3: Ein europäischer Ausstieg aus Öl und Gas hat keinen Einfluss aufs Weltklima

Zu guter Letzt greift Hans-Werner Sinn in der FAZ und der Welt wieder auf seine Generalkeule gegen deutschen und europäischen Klimaschutz zurück. Obwohl oft gekontert, argumentiert der Volkswirtschaftler seit Jahren, dass ein europäischer Verzicht auf Öl und Gas nichts mit Klimaschutz zu tun hätte.

"Die Brennstoffe, die wir freigeben, werden in diesem Fall nur anderswohin geleitet und dort zu fallenden Preisen verkauft" – und schließlich eben auch verbrannt, so Sinn.

Daraus leitet Sinn ab, dass der Ausstieg etwa aus dem Verbrennungsmotor dem Klima nichts nütze, ja sogar schade. Schließlich würde das eingesparte Erdöl woanders verbrannt, und klimaneutral seien Elektroautos auch nicht. Ähnlich vernichtend urteilt er in dieser Logik auch über andere klimafreundlichere Technologien.

Zahlreiche Expert:innen widersprachen diesen Behauptungen in den vergangenen Jahren öffentlich. Die Ökonomin Monika Schnitzer, Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, entgegnete in der FAZ, dass auch im Fall eines sinkenden Ölpreises die Gesamtfördermenge abnehmen würde. Besonders dann, wenn neue grüne Erwerbsquellen entstünden, beispielsweise der Export von Wasserstoff.

"Hans-Werner Sinn irrt", konterte auch die Energieökonomin Claudia Kemfert auf Nachfrage von Klimareporter°. "Selbstverständlich bringt der geplante Ausstieg Europas aus fossilen Energien etwas für das Klima. Europa ist eine der emissionsintensivsten Regionen der Welt, der geplante Emissionsrückgang ist wichtig für die internationale Klimaschutzpolitik."

Wäre die Rolle Europas tatsächlich so gering, wie Sinn behauptet, müsse dies ebenso für die fossilen Energiemärkte gelten, so Kemfert. Ein Rückgang der europäischen Nachfrage dürfte dann auch keinen Einfluss auf die fossilen Preise haben.

Kemfert: "Das Argument von Hans-Werner Sinn wäre so ad absurdum geführt." Zudem sei weltweit ein Trend in Richtung Elektromobilität und Elektrifizierung zu beobachten – nicht nur in Europa.

Erneuerbare sind mittlerweile die billigste Energiequelle. Das liegt an den massiven Investitionen in diesem Bereich. Sprich: Wenn Europa verstärkt in klimafreundliche Alternativen investiert, sinken die Preise dieser Technologien weltweit.

So schrieb der Wirtschaftswissenschaftler und Statistiker Max Roser, dass "mit jeder Verdoppelung der kumulierten installierten Kapazität Erneuerbarer ihre Kosten proportional fallen".

Auch der Ökonom Pao-Yu Oei, Professor für Energiewendeökonomie an der Europa-Universität Flensburg, erwartet in den nächsten Jahren, im Einklang mit Prognosen der Internationalen Energieagentur, einen weltweiten Rückgang der fossilen Nachfrage. "Eine zusätzliche Reduktion in Deutschland beschleunigt diesen Trend, ohne dass eine automatische Verlagerung dieser fossilen Ressourcen zu befürchten ist."

Sinn hingegen sieht die einzigen Möglichkeiten für Europa und Deutschland, Klimaschutz zu betreiben, im Ersatz von Kohlekraftwerken durch Atomkraft und die "Verpressung von flüssigem CO2 in alten Gasfeldern unter dem Meeresboden", auch als CCS bekannt. So argumentiert er in der Welt.

Aus seiner verqueren Grundkritik an Klimaschutz schließt Sinn also, dass sich das Klima nur mithilfe der teuersten und gleichzeitig riskantesten Technologien schützen lässt. Wobei speziell die Forderung nach CCS die argumentative Steilvorlage für die gesamte klimaschädliche Industrie liefert, um ihr fossiles Geschäftsmodell weiter am Leben zu erhalten.

Mit demselben Argument verteidigen etwa Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate ihre fossilen Expansionspläne.

Die Reaktionen der befragten Expert:innen fallen auch hier entschieden aus.

Pao-Yu Oei: "Der Bau neuer Atom- oder CCS-Kraftwerke ist um ein Vielfaches teurer als der Ausbau von Erneuerbaren und Stromspeichern." Auch Kemfert wiederholt, dass CCS und Kernkraft die "mit Abstand teuersten Technologien" sind. Und für Schüwer darf CCS aufgrund der Kosten und Risiken nur "dort zum Einsatz kommen, wo (noch) keine Alternativen zur Verfügung stehen", zum Beispiel bei prozessbedingten Emissionen der Zementindustrie.

 

Man könnte sich nun auch noch Sinns Wunderrechnungen vornehmen, wonach Elektroautos klimaschädlicher sind als Verbrenner. Aber da alle seine Argumente auf den hier besprochenen Fehlannahmen aufbauen, ersparen wir uns das.

Hans-Werner Sinn weiß, wie man sich und vor allem seine These in Szene setzt. In den 2000er Jahren warnte Sinn wiederholt vor der Einführung des Mindestlohns: Massenarbeitslosigkeit werde die Folge sein. Am Ende hatte die Einführung des Mindestlohns 2015 keine nennenswerten Auswirkungen auf die Anstellungszahlen.

Nun ist es die Energiewende, die Deutschland wirtschaftlich ruinieren soll. Der Untergang lauert, glaubt man Sinn, zu jeder Zeit hinter der nächsten progressiv-politischen Maßnahme. Am Ende bleibt: Die wirklichen Untergangs-Propheten kleben nicht auf der Straße, sondern auf den immer gleichen Talkshowstühlen und ihre immer gleichen Zitate auf den immer gleichen Titelseiten.

Redaktioneller Hinweis: Claudia Kemfert gehört dem Herausgeberrat von Klimareporter° an.