Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Claudia Kemfert, Professorin für Energiewirtschaft und Chefin des Energie- und Umweltbereichs am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW.
Klimareporter°: Frau Kemfert, der Thinktank Agora Energiewende hat eine durchwachsene Emissionsbilanz für 2024 vorgestellt. Das Ziel des Klimaschutzgesetzes wurde zwar erreicht, aber Gebäude und Verkehr stoßen nach wie vor zu viel CO2 aus. Entscheidend für den Rückgang der Emissionen waren der wirtschaftliche Abschwung und milde Wintertemperaturen. Sehen Sie 2024 dennoch als klimapolitischen Erfolg?
Claudia Kemfert: Zumindest war es kein kompletter Misserfolg. Tatsächlich stieg der Anteil der erneuerbaren Energien deutlich an und der von Kohle ging zurück, sodass der Energiesektor seine Ziele beinahe übererfüllte.
Zwar könnte es beim Ausbau der Windenergie schneller gehen, aber auch dort sind viele Projekte in der Genehmigungsphase. Allerdings hinken die anderen Sektoren enorm hinterher.
Es fehlt noch immer eine Verkehrswende mit einer Stärkung des ÖPNV und der Schiene oder auch nur ein Tempolimit. Das Deutschlandticket ist gut, sollte aber preiswerter sein. Noch immer werden Verbrennerfahrzeuge bevorteilt und die Ladeinfrastruktur wird nicht ausreichend ausgebaut.
Mit dem Gebäudeenergiegesetz ist zwar ein guter Anfang gemacht, aber durch die problematische Kommunikation sind Hauseigentümer eher verunsichert. Da hoffe ich für die Zukunft auf Kontinuität beziehungsweise Planungssicherheit für Hausbesitzer.
Sorgen macht mir, dass die konservativen Parteien das Gebäudeenergiegesetz eher abschaffen wollen. Das wäre der völlig falsche Weg, genauso wie die Abschaffung des Verbrennerverbots. Alle Bereiche, besonders die Autoindustrie, brauchen einen klaren Rahmen für Investitionen und Planung. Sonst droht der Wirtschaftsstandort durch unsichere politische Rahmenbedingungen eher geschwächt zu werden.
Ich fürchte außerdem, so werden die Ziele der Klimaneutralität nicht erreicht werden können.
Der Ökonom Hans-Werner Sinn hat kürzlich in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und in einem Interview mit der Zeitung Die Welt die deutsche Klima- und Energiepolitik erneut scharf kritisiert. Einer seiner seit Jahren wiederholten Kernpunkte ist: Ein Ausstieg Deutschlands und der EU aus Erdöl oder Erdgas sei schlecht für die Wirtschaft und habe nichts mit Klimaschutz zu tun, da die fossilen Brennstoffe dann einfach von anderen Ländern verbrannt würden. Hat er recht?
Hans-Werner Sinn irrt. Selbstverständlich bringt der geplante Ausstieg Europas aus fossilen Energien etwas für das Klima. Europa ist eine der emissionsintensivsten Regionen der Welt, der geplante Emissionsrückgang ist wichtig für die internationale Klimaschutzpolitik. Denn nicht nur Europa hat Emissionsminderungsziele, sondern die haben gemäß dem Pariser Klimaabkommen 180 Staaten der Welt.
Weltweit geht der Trend zur Elektromobilität, zum Energiesparen und zur Elektrifizierung auch des Gebäudeenergiesektors. Europa und auch Deutschland drohen die Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren, sollten wir bei den innovativsten Technologien der Welt nicht mehr mitspielen.
Folgt man dem Argument von Hans-Werner Sinn, müsste dies ebenso für die fossilen Energiemärkte gelten: Sollte Europa nur eine kleine Rolle spielen, dürfte eine veränderte Nachfrage auch keine spürbaren Effekte auf die Preise fossiler Energien auf der Welt haben. Damit würden die anderen Länder nicht automatisch mehr fossile Energie verbrauchen. Das Argument von Hans-Werner Sinn wäre so ad absurdum geführt.
Die einzig sinnvollen Maßnahmen Europas bestehen nicht darin, Braunkohlekraftwerke durch Atomkraft zu ersetzen oder CCS unter der Nordsee zu verpressen. Das sind die mit Abstand teuersten Technologien. Viel preiswerter sind die erneuerbaren Energien, deswegen setzen sie sich auch weltweit durch – die Investitionen in erneuerbare Energien sind drastisch gestiegen.
Klimaschutz-Investitionen bringen sehr viel für die Wirtschaft, da sie zukunftsfähige Wertschöpfungen und Arbeitsplätze schaffen, so die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt wird. Andere Länder wie China und die USA haben Deutschland in puncto grüne Wirtschaft längst überholt.
Wir zahlen heute den Preis der verschleppten Energiewende, da wir zu lange von fossilen Energien abhängig sind und fossile Energiepreise hierzulande die Kosten in die Höhe treiben. Hätten Politiker in den letzten 20 Jahren die Energiewende nicht verschleppt, wären wir heute resilient gegen fossile Energiepreisschocks.
Auch wenn Klimapolitik im Wahlkampf bisher eine untergeordnete Rolle spielt, lassen einige Aussagen und Wahlprogramme aufhorchen. Die FDP will die Klimaneutralität um fünf Jahre auf 2050 hinausschieben. Friedrich Merz nannte Windräder eine Übergangslösung. Auch die Grünen stellen keine großen Schritte in Aussicht. Geht es bei dieser Wahl klimapolitisch allein darum, ein massives Rollback zu verhindern, statt Fortschritte zu erreichen?
Es sieht so aus, leider. In nahezu allen Programmen der Parteien spielt Klimaschutz eine unzureichende Rolle, sodass das Ziel der Klimaneutralität gefährdet ist. Die Grünen, aber auch die Linke, haben ein gewisses Ambitionsniveau in puncto Klimaschutz, auch die SPD will zumindest an den klimapolitischen Zielen festhalten.
Bei der Union und auch der FDP ist eher ein klimapolitisches Rollback zu erwarten. Wichtige klimapolitische Entscheidungen wie das Gebäudeenergiegesetz oder das Verbrenner-Aus sollen abgeschafft werden. Klimapolitische Ziele sollen eher über einen CO2-Preis geregelt werden. Dieser müsste sehr stark steigen, wenn eine echte Lenkungswirkung erzielt werden soll.
Das würde bedeuten, dass Benzin- und Heizölpreise massiv ansteigen würden. Das ist sozial sehr ungerecht, da Niedrigeinkommensbezieher überproportional belastet werden. Zwar soll ein Klimageld ausgezahlt werden, aber es ist eher zu befürchten, dass Preissteigerungen gedeckelt werden, Stichwort Tankrabatt.
Eine Politik des "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass" wird unzureichend sein, um die Klimaziele zu erfüllen. Je nach Koalitionspartner kann man nur hoffen, dass ein massives klimapolitisches Rollback verhindert wird.
Zu dem US-Konzern Meta gehören die Social-Media-Plattformen Facebook und Instagram und der Messengerdienst Whatsapp. Ebenso wie auf X, ehemals Twitter, soll dort nun das Faktencheck-Programm eingestellt werden, sprich der Wahrheitsgehalt von Postings soll nicht mehr von unabhängigen Organisationen überprüft werden.
Schon heute verbreiten sich im Netz massenweise Falschinformationen zum Klimawandel und den gesellschaftlichen Herausforderungen. Lohnt sich das Engagement von Wissenschaftler:innen auf diesen Plattformen noch angesichts dieser Entwicklung?
Unbedingt! Jetzt erst recht! Es ist die Stunde der Wissenschaft, der Medien und der Zivilgesellschaft.
Die enorme Rückwärtsbewegung durch Klimaleugner-Regierungen in vielen Ländern der Welt ist in höchstem Maße besorgniserregend. Desinformations-Kampagnen der Klimaleugner sollte entschieden entgegengetreten werden. Die Wissenschaft darf nicht tatenlos zusehen, wie falsche Informationen zum Klimawandel verbreitet werden.
Wir brauchen dringend mehr Regeln gegen Falschinformationen und wissenschaftliche Fakten gegen Fake News. Ich freue mich über Kooperationen im Bereich des Klimajournalismus. Ich wünschte mir ebenso koordinierte Reaktionen vonseiten der Wissenschaft.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Überraschend und schockierend war, dass die Datenauswertungen der großen Rückversicherer mit hohen Schäden durch den Klimawandel vielen Medien nicht mal mehr eine Meldung wert waren. Die Münchener Rück teilte mit, dass die Schäden durch Naturkatastrophen im letzten Jahr stark angestiegen sind.
Zeitgleich zeigte das EU-Copernicus-Projekt, dass 2024 das wärmste Jahr in der Geschichte war und die 1,5-Grad-Marke überschritten wurde. Aufgrund von Regenmangel in Kalifornien gibt es gerade enorme Waldbrände in der Region um Los Angeles, halb Hollywood drohte abzubrennen. Und trotzdem sprechen wir nie über die enormen Kosten des Klimawandels.
Ganz sicher wird in der nächsten Politikerrunde die Frage gestellt: Was kostet der Klimaschutz, worauf muss verzichtet werden? Oder es heißt, Klimaschutz habe die Wirtschaft abgewürgt. Dass es genau umgekehrt ist, wird erfolgreich verdrängt. Es ist schockierend, immer wieder aufs Neue.
Fragen: David Zauner