Für das Gasverteilnetz in den Städten und Gemeinden gibt es keinen Ausstiegsplan. (Bild: Kilo Lux/​Shutterstock)

Erdgasnetze sind Teil der Energie-Infrastruktur. Sie sind im Eigentum von Monopolunternehmen und werden von ihnen bewirtschaftet. Die Betreiber dürfen keine Monopolrenten abschöpfen, sie stellen vielmehr lediglich – nach Maßgaben, die die Bundesnetzagentur vorgibt – die "erforderlichen" Kosten dafür den Gaskunden anteilig in Rechnung.

Zudem testieren Wirtschaftsprüfer die Bilanzen der Netzbetreiber, checken insbesondere, ob die angesetzten Restwerte der Gasnetze stimmen, ob diese noch zu amortisieren sind.

Bei den regionalen Gasverteilnetzen können zudem die Kommunen eine mitgestaltende Rolle spielen, da sie den Unternehmen den Betrieb nur im Rahmen von Konzessionsverträgen gestatten.

Die Kosten der Gasverteilnetze, die anteilig in Rechnung zu stellen sind, bestehen aus drei Elementen: erstens den Kosten für den laufenden Betrieb, zweitens dem Aufwand für die Investitionen und drittens dem Preis für das beim Bau der Gasverteilnetze vorgestreckte Kapital, den Kalkulationszins.

Bei einem sehr langlebigen Wirtschaftsgut gilt die Maxime, den Aufwand über die Jahre der voraussichtlichen Nutzung, also die "Lebensdauer", gleichmäßig zu verteilen.

Die so ermittelten Kosten, etwa pro Jahr, werden dann auf die Nutzer des jeweiligen Netzes umgelegt. Maßgabe ist hier wiederum das Ausmaß der Nutzung, also die bezogene Gasmenge.

Um dieser Maxime folgen zu können, ist einiges an "Voraussicht" erforderlich, es sind also etliche Annahmen über die Zukunft zu treffen.

20 Jahre sind keine Ewigkeit

Im Detail ist die Zukunft größtenteils unbestimmt. Aber dass wir uns in Deutschland zum Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen keine 65 Jahre Zeit mehr nehmen wollen, das ist für einen Wirtschaftsprüfer deutlich einfacher zu erkennen als die Werthaltigkeit eines Treuhand-Vermögens von Wirecard.

 

Vor diesem Hintergrund ist bemerkenswert: Die Richtlinien zur Entgeltregulierung bei Versorgungsnetzen für Erdgas – einem fossilen Energieträger –, die die Bundesnetzagentur vorgegeben hat und die bislang gelten, sind auf einen Netzbetrieb zugeschnitten, der auf unbegrenzte Dauer angelegt ist.

Diese unterstellte "Ewigkeit" wird handhabbar gemacht mit einer linearen Abschreibungszeit von bis zu 65 Jahren. Die entsprechenden Vorschriften sind von der Bundesnetzagentur vor gut 15 Jahren erlassen worden.

Da war der menschengemachte Klimawandel schon kein exotisches Fremdwort mehr. Zu der Zeit hatten sich die Staaten Europas bereits in der UN-Klimarahmenkonvention verpflichtet, "die Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird".

Das ist aber nur möglich, wenn die Emissionen von Treibhausgasen auf null gehen. Die Beschaffung und Verbrennung von Erdgas ist hingegen stets mit Emissionen verbunden.

Eine "ewige" Nutzung von Erdgasverteilnetzen war also bereits vor 15 Jahren, als die Bundesnetzagentur die Abschreibungsregeln für die erste sogenannte Regulierungsperiode beim Erdgas konzipierte, von Politik und Gesetzgeber für unmöglich erklärt worden.

Deutschland hat sich inzwischen im Bundes-Klimaschutzgesetz verpflichtet, die Treibhausgas-Emissionen, die von seinem Staatsgebiet ausgehen, bis 2045 gegen null zu fahren. Auch etliche Bundesländer sind in ihren Klimaschutzgesetzen ähnliche Verpflichtungen eingegangen.

Damit ist rechtlich besiegelt, dass die "Ewigkeit" schon in etwa 20 Jahren zu Ende sein wird.

All das wurde bisher ignoriert – von den Eigentümern der Gasnetze, von den Wirtschaftsprüfern der Unternehmen, von den konzessionsgebenden Kommunen und auch vom Regulierer, der Bundesnetzagentur.

Später Abschied von einer Fiktion

Inzwischen hat sich ein wenig getan, vergleichbar den ersten zarten Bewegungen beim Öffnen einer Knospe. Anlass war für die Bundesnetzagentur die durch den russischen Angriff auf die Ukraine verschärfte Gaskrise.

Die Krise rückte die Dekarbonisierung des vom Erdgas versorgten Sektors stärker in den Fokus. Das deckt sich mit Äußerungen von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, wonach wegen des Krieges die Novelle des Gebäudeenergiegesetzes, des sogenannten Heizungsgesetzes, vorgezogen worden sei, um drohende Spätwinter-Versorgungskrisen beim Erdgas besser zu bewältigen.

Bild: Wuppertal Institut

Jochen Luhmann

studierte Mathematik, Volks­wirtschafts­lehre und Philosophie und promovierte in Gebäude­energie­ökonomie. Er war zehn Jahre als Chef­ökonom eines Ingenieur­unternehmens und 20 Jahre am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie tätig. Er ist im Beirat der Vereinigung Deutscher Wissen­schaftler und dort Mitglied der Studien­gruppe Europäische Sicherheit und Frieden.

Auch habe sich, erläutert die Bundesnetzagentur weiter, eine kurzfristige Konkretisierung der Klimaschutzplanungen beispielsweise durch kommunale Wärmepläne abgezeichnet. Das habe es dann erforderlich gemacht, eine Verkürzung der Nutzungsdauer von Erdgasinfrastrukturen zu ermöglichen.

Also nicht das Klimaschutzgesetz, sondern erst die drohende kommunale Wärmeplanung soll der Auslöser dafür gewesen sein, von der Fiktion einer "ewigen" Erdgasnutzung auch in der Kalkulation Abstand zu nehmen.

Die Bundesnetzagentur hat inzwischen zumindest ein Faktum geschaffen. Im vergangenen November veröffentlichte sie den Beschluss Kanu BK9-22-614 und senkte die kalkulatorische Nutzungsdauer von Erdgasleitungs-Infrastrukturen ab 2023 potenziell auf gut 20 Jahre bis spätestens 2045 ab – allerdings nur für Neuinvestitionen.

Die Verkürzung der Amortisationszeit auf ein Drittel bedeutet: Die Kosten neuer Netzbestandteile können für die Endkunden verdreifacht werden.

Der Stein, der damit ins Rollen gebracht wurde, scheint eine Lawine ausgelöst zu haben. Die Gasverteilnetzbetreiber begannen nämlich, über ihre Interessen nachzudenken. Dabei ging ihnen offenbar ein Licht auf.

Wer trägt die nicht mehr umlegbaren Kosten?

Nun verlangen die Netzbetreiber, dass ihnen dieselbe Möglichkeit auch für ihre bestehenden Netze zugestanden wird. Hintergrund ist eine programmatische Forderung des Energiewirtschaftsverbandes BDEW: "Es erfolgt keine Entwertung bestehender Vermögenswerte."

Anders gesagt: Auch für den Netz-Bestand müssen die erlaubten Amortisationszeiten so angepasst werden, dass keine Verluste ("Stranded Assets") in den Büchern entstehen. Eine Überschlagsrechnung ergibt dann eine Verdoppelung der durchschnittlichen Netz-Amortisations-Entgelte für die Endkunden.

Das wird aber nicht reichen. Eine Verdopplung der Netzamortisation wird als Preisebestandteil das Verhalten der Gaskunden beeinflussen. Diese werden dem Gas ohnehin im Zuge der Transformation nach und nach den Rücken kehren und stetig abwandern, hin zu Wärmepumpen und Wärmenetzen.

Die abschreibungsbedingt höheren Kosten für das Gasverteilnetz blieben dann zwar insgesamt unverändert, müssen aber von einer stetig sinkenden Zahl noch verbliebener Gaskunden getragen werden. Folglich werden die umzulegenden Netzkosten pro Kunde mit der Zeit steigen.

Die Konsequenz daraus wird dann wieder sein: Rette sich, wer kann! Das droht absehbar die Maxime der bisher eigentlich recht treuen Gaskunden zu werden. So etwas kann nicht gut gehen.

Auch dagegen ist bereits ein Heilmittel im Gespräch: die degressive Abschreibung. Dann allerdings müssen die jetzigen Gaskunden, die an den Verteilnetzen hängen, noch schnell all die Abschreibungen tragen, die ursprünglich für die 65 Jahre kalkuliert waren.

Es muss also etwas geschehen. Wo das viele Geld herkommen soll, das die zunehmend abspringenden Gaskunden auch bei degressiver Abschreibung nicht mehr zahlen werden, ist offen. Nicht von ungefähr malt der Verband der Gasnetzbetreiber eine "Finanzierungskrise 2.0" der kommunalen Energieversorger an die Wand. Recht hat er.

Der eigentliche Elefant im Raum ist die Frage: Wer soll die vielen neuen Netze, die nach dem baldigen Abschluss tausender kommunaler Wärmeplanungen als Wünsche auf dem Papier stehen, eigentlich finanzieren? Insbesondere dann, wenn es keinen Anschluss- und Nutzungszwang geben soll.