Was als ein gutes und erfolgreiches Leben gilt, wird durch Leitbilder geprägt. (Bild: Marko Ristić/​Shutterstock)

Die Warnlampen gehen an, wenn das Wirtschaftswachstum sinkt. So wie gerade in den USA. Fachleute erwarten, dass die unerwartete ökonomische Schwäche plus höhere Arbeitslosigkeit mit darüber entscheiden, ob die Demokratin Kamala Harris oder der Republikaner Donald Trump die Präsidentschaftswahlen gewinnt.

Und auch hierzulande hängt das Image der Ampel-Bundesregierung stark davon ab, wie die Ökonomie läuft. Die Hoffnung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf ein grünes Wirtschaftswunder durch Investitionen in den Klimaschutz mit Wachstumsraten "wie zuletzt in den 1950er und 1960er Jahren", hat sich bisher nicht erfüllt.

Die deutsche Volkswirtschaft liegt nur knapp über der Rezession, und die Ampel versucht aktuell, mit einer "Wachstumsinitiative" gegenzusteuern. Die Aussichten sind eher mau.

Über eines wird in solchen Krisen kaum gesprochen: darüber, dass die Fixierung auf Wachstumsprozente als Indikator dafür, ob es einer Gesellschaft wirklich gut oder schlecht geht, überholt ist. Steuern, Sozialsysteme, sogar grüne Investitionen – alles hängt davon ab, dass das Bruttosozialprodukt wächst und mehr zu verteilen ist. Dabei ist eigentlich längst klar, dass Wachstum, das die Klima- und Umweltschäden vergrößert, kein sinnvolles Ziel sein kann.

Eine neue Untersuchung, für die Interviews in fünf EU-Ländern durchgeführt wurden, unterstreicht das. Zentrales Ergebnis: Nicht das Wirtschaftswachstum, sondern die nachhaltige Befriedigung zentraler menschlicher Bedürfnisse wie Ernährung, Mobilität, Wohnen und Freizeit sollte Leitbild für eine Neugestaltung der entsprechenden Sektoren sein.

"Einfluss mächtiger Interessengruppen eindämmen"

Grundlage der Studie ist die Erkenntnis, dass die Produktions- und Konsummuster in diesen vier zentralen Bereichen verändert werden müssen, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. "Wir wollten herausfinden, welche gesellschaftlichen Strukturen den Wandel am meisten behindern", erläuterte Hauptautorin Halliki Kreinin vom Potsdamer Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit RIFS, einem Helmholtz-Zentrum.

Dazu wurden in fünf EU-Ländern – Deutschland, Spanien, Schweden, Ungarn und Lettland – Interviews mit Expertinnen und Experten geführt und in sogenannten Denklaboren mit Menschen aus Politik, Zivilgesellschaft, Medien und Thinktanks diskutiert. Die Arbeit entstand innerhalb des EU-Verbundprojekts "1,5‑Grad-Lebensstile", das vom RIFS koordiniert wird.

Das Hauptergebnis: Als zentrales Hindernis für die Transformation sehen die Befragten laut dem Helmholtz-Team das Leitbild des Wirtschaftswachstums, das Akteure in allen Gesellschaftsbereichen antreibt und Veränderungen hin zur Nachhaltigkeit erschwert.

Als alternatives Leitbild wurde die "Befriedigung von Bedürfnissen und das Wohlergehen aller" benannt, was auch Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur bedeutet – unter anderem ein Verschwinden von schädlichen Industrien und Technologien.

Um eine entsprechende Nachhaltigkeitspolitik durchzusetzen, müssten die Regierungen den Einfluss mächtiger Interessengruppen wie der fossilen Industrie eindämmen, so das Institut.

Begleitgremien sahen Ungleichheit als großes Problem 

Sinnvoll seien auch wirtschaftliche Anreize für Investitionen in nachhaltige Technologien und Produkte sowie die Einpreisung bisher ungedeckter Umweltkosten, etwa durch höhere Steuern auf Energieverbrauch und im Gegenzug niedrigere Steuern auf Arbeit. Viele der Befragten erachten laut dem Institut auch Verbote und Grenzwerte als notwendig.

"Ein wichtiger Schritt wäre schon geschafft, wenn der Erwerb und die Nutzung von extrem umweltverschmutzenden Waren und Dienstleistungen wie Privatjets, privater Raumfahrt oder Geländewagen eingeschränkt oder mit starken finanziellen Negativanreizen belegt würde", sagte Institutsdirektorin Doris Fuchs.

Es dürfe aber nicht bei lauter Einzelmaßnahmen bleiben, sondern diese müssten besser ineinandergreifen, so Fuchs, die auch Co-Autorin der Studie war. "Zurzeit stehen Klima- und Wirtschaftspolitik häufig im Konflikt miteinander."

In den Befragungen spielten laut der Forschungsgruppe auch "weiche Faktoren" eine Rolle, wie die Stärkung nachhaltiger Lebensstile und alternativer Indikatoren eines "guten Lebens". Immer wieder sei in den Denklaboren zudem das Problem der Ungleichheit zur Sprache gekommen.

Ärmere Bevölkerungsgruppen seien am meisten vom Klimawandel betroffen, hätten gleichzeitig zu wenig Ressourcen, um sich zu engagieren. Die Politik müsse ihnen mehr Teilhabe ermöglichen. Dazu gehöre die bessere Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsthemen in den Schulen.

"Nachhaltigkeitspolitik muss sagen, was schrumpfen muss"

Der renommierte Nachhaltigkeitsforscher Reinhard Loske lobte die Studie, sie benenne die wesentlichen Treiber der aktuellen Fehlentwicklung, sagte er gegenüber Klimareporter°. Es werde entscheidend sein, erfolgversprechende Strategien für deren Überwindung zu entwickeln und "Transformationsbündnisse" dafür zu schmieden, wie dies etwa bei gemeinsamen Aktionen der Gewerkschaft Verdi mit Fridays for Future der Fall gewesen sei.

"Dass das für alle Kräfte guten Willens derzeit allerdings ein hartes Brot ist, zeigt sich in Feldern wie der Agrar-, Bau-, Verkehrs,- Energie und Biodiversitätspolitik nur allzu deutlich." Ein vergangen geglaubter Wachstumsfetischismus inklusive einer Gefälligkeitspolitik gegenüber großen Teilen der Wirtschaft erlebe hierzulande eine traurige Renaissance, sagte Loske, der Professor an der Universität Witten/Herdecke und Mitglied im Vorstand der Stockholmer Right Livelihood Foundation ist, die die alternativen Nobelpreise vergibt.

 

Der Experte kritisierte, dass nach dem schlecht gemachten Heizungsgesetz offenbar "Zumutungsfreiheit für alle" zum neuen Leitprinzip der Nachhaltigkeitspolitik der Ampel werde. Das aber trage nicht weit, denn weder würden so die notwendigen Ziele erreicht noch lasse sich damit eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung für ein neues Wohlstandsmodell erzeugen.

Loske: "Es hilft nichts, Nachhaltigkeitspolitik muss sagen, was wachsen soll und was schrumpfen muss, welche Einstiege und welche Ausstiege anstehen, was durch Technik- und Strukturwandel und was durch Gesellschafts- und Lebensstilwandel erreicht werden muss."

Wichtig sei zudem, die Transformation so gerecht wie möglich zu gestalten, damit niemand auf der Strecke bleibe. "Das wäre wohl auch die beste Medizin gegen Populisten und die ewigen Nein-Sager und Beharrungskräfte."