Porträtaufnahme von Michael Müller.
Michael Müller. (Foto: Martin Sieber)

Das Wichtigste aus 52 Wochen: Sonst befragen wir die Mitglieder unseres Herausgeberrats im Wechsel jeden Sonntag zu ihrer klimapolitischen Überraschung der Woche. Zum Jahresende wollten wir wissen: Was war Ihre Überraschung des Jahres? Heute: Michael Müller, als SPD-​Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde.

"Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern Kunst muss sichtbar machen." Was der Maler Paul Klee damit ausdrücken wollte, wird besonders in seinem "Angelus Novus" von 1920 deutlich, ein besonders ausdrucksstarkes Bild.

Ein Jahr später erwarb der Philosoph Walter Benjamin das Werk, das ihn sein Leben lang begleitete. Für ihn ist es ein Meditationsbild für das 20. Jahrhundert. Es hängt heute im Israel-Museum in Jerusalem.

In seinem berühmten Text "Über den Begriff der Geschichte" beschreibt Benjamin anhand des Angelus Novus die unerbittlichen Folgen der unvollendeten Moderne: "Wo eine Kette nur von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er (der Engel) eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert."

Benjamin vermutet, dass Angelus Novus wohl gern noch verweilen würde, um die Toten zu wecken und das Zerschlagene zusammenzufügen. "Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass er sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm."

Benjamins Interpretation hat heute, angesichts der ökologischen Grenzen des Wachstums und wachsender sozialer Ungleichheiten, die die Trümmer vor uns aufwerfen, eine neue, weitergehende und aktuelle Bedeutung. Das Modell der westlichen Moderne hat viel von seiner Integrationskraft und Zustimmung verloren, schneller als noch vor kurzer Zeit zu erwarten war.

Fortschritt, aber wohin?

Deshalb: Wenn ich nach der Überraschung des Jahres gefragt werde, dann kann ich zwar viele einzelne Beispiele nennen, von den Problemen bei der Energiewende über die Verlängerung der Atomlaufzeiten bis zum Neun-Euro-Ticket. Aber, so wichtig sie auch sind, im Kern bleiben sie der Versuch, das Bestehende in neuer Form zu bewahren, ganz so wie die Überschrift der aktuellen Koalitionsvereinbarung verheißt: "Mehr Fortschritt wagen".

Doch gerade dieser Fortschritt ist es doch, der, wie Walter Benjamin uns sagen will, die zivilisatorischen Trümmer vor uns aufhäuft.

Meine Überraschung des Jahres ist, dass sich immer schneller, viel schneller und härter als noch vor einem Jahr erwartet, eine globale Krise der bisherigen Hegemonie von Fortschritt ausweitet, ein vielseitiger Krisenkomplex, der sich auf Ökonomie, Ökologie, Politik und die soziale Sphäre erstreckt und auch beim Ukraine-Krieg gesehen werden muss. Die bisherigen Pflaster, die in normalen Zeiten noch geholfen haben, haften nicht mehr.

Die immanenten Widersprüche kapitalistischer Wirtschafts- und Lebensweisen zeigen sich im neuen Jahrzehnt der Extreme in einer viel direkteren Form, werden jedoch in den öffentlichen Diskursen weitgehend verdrängt. Die multidimensionale Krise ist eine Krise der gesamten politischen und sozialen Ordnung, die nicht mit einem naiven Bekenntnis zu den "westlichen Werten", so bedeutend sie auch sind, zu bewältigen ist.

Die Wahrheit ist, dass die Grundidee der Moderne, der Glaube an die Linearität, dessen ursprüngliches Hauptmotiv die Befreiung des Menschen aus Unterdrückung, Abhängigkeit und Zwängen war, im Industriezeitalter durch die ständige Vorwärtsbewegung der Gesellschaft erreicht werden sollte, was aber mit der Endlichkeit unseres Planeten für das menschliche Leben nicht vereinbar ist. Dennoch wurde Fortschritt mehr und mehr auf die Ideologie des Schneller, Höher, Weiter reduziert.

Technischer Fortschritt und wirtschaftliches Wachstum wurden zu den Ikonen der Moderne. Die Folgen sind unvereinbar mit der Endlichkeit des Erdsystems und der Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in den Lebensverhältnissen. Darum geht es heute.

Kritische Theorie als Verlierer

Werden die ökologischen Grenzen des Wachstums weiter ignoriert, droht unser Jahrhundert zu einem Jahrhundert der Verteilungskämpfe zu werden, die letztlich sogar die Selbstvernichtung der Menschheit denkbar macht. Und die heute vielfach dominierende Außenpolitik der Abgrenzung verstärkt in der zusammengewachsenen Welt, die auf Zusammenarbeit angewiesen ist, das Problem.

Die multidimensionale Krise des neoliberalen Kapitalismus hat die Idee des Wohlfahrtsstaates, die nach dem New Deal in den USA die Entwicklung der westlichen Staaten nach 1945 bestimmen konnte, in den letzten vier Jahrzehnten abgelöst. Die multiplen Krisen schreiten in der globalen Welt viel schneller voran als erwartet.

Doch es fehlt eine kritische und aufklärende Theorie, die eine akkurate Diagnose der gesellschaftlichen Ursachen und Dynamiken der Krisen möglich macht.

Im Gegenteil: Der große Verlierer des Jahres ist die Kritische Theorie als tragfähige Grundlage zur Bestimmung gesellschaftlicher Reformen. Die multiplen Krisen sind aber strukturell in der Wachstumsdynamik und Konsumordnung des Kapitalismus angelegt, der nicht die menschlichen Bedürfnisse befriedigt, sondern Gewinne erzielen will.

Stattdessen dominiert immer stärker eine Allianz zwischen dem neuen "symbolischen Kapitalismus", der bestimmt wird von Wall Street, Streamingdiensten und Silicon Valley einerseits und liberalen bis radikal individualistischen Strömungen sozialer Bewegungen andererseits, letztlich systemkonform und unternehmensfreundlich.

Um ein Beispiel zu nennen, die Hillary Clintons oder Christine Lagardes wollen natürlich Gleichheit mit den Männern, aber Gleichheit mit den Männern ihrer eigenen Klasse. Eine wirkliche Veränderung ist das nicht. Diese Widersprüche sind im letzten Jahr noch stärker geworden, bis weit hinein in die Bundesregierung.

Losgelöst von einer neuen und größeren sozialen Ordnung, wird das zu einer Politik der oberen Mittelschicht und der Oberklasse – statt zur sozialen und ökologischen Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft, die unsere Zeit so dringend braucht, um die Existenzgrundlagen und den sozialen Zusammenhalt der Menschheit zu bewahren. 

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