Klimareporter°: Frau Kemfert, die Ampel ist abgeschaltet, doch Stillstand in der Energie- und Klimapolitik kann die Bundesrepublik sich nicht leisten. Welche Gesetze in diesem Bereich sollten die Scholz-Rumpfkoalition zusammen mit der Union jetzt noch beschließen – von der Wasserstoff-Förderung bis zur Verlängerung des Deutschlandtickets?
Claudia Kemfert: Wünschenswert wäre eigentlich, dass die Bundesregierung mehr Vorhaben aus ihrem Koalitionsvertrag umgesetzt hätte – wie beispielsweise, dass keine neuen Öl- und Gasbohrungen stattfinden und dass zudem das Klimageld ausgezahlt wird.
Die Novelle des Baugesetzbuchs zum besseren Hitzeschutz, das Energieeffizienzgesetz und die Umsetzung der weiteren Stufen des EU-Emissionshandels sowie EU-Vorhaben zum beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien sollten idealerweise noch beschlossen werden.
Claudia Kemfert
leitet die Energieabteilung am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Sie ist Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Universität Lüneburg, außerdem Vize-Vorsitzende des Sachverständigenrats für Umweltfragen der Bundesregierung und Herausgeberratsmitglied von Klimareporter°.
Aber welche Projekte haben denn ernsthaft noch eine Chance?
Schwer zu sagen, vermutlich haben das Kohlenstoff-Speichergesetz und auch die Kraftwerksstrategie zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit dank FDP und CDU eine Chance. Genauso das Wasserstoff-Beschleunigungsgesetz. Alle Vorhaben sehe ich in der jetzigen Form sehr kritisch, aber mit einer konservativ geführten Regierung würden Sie künftig vermutlich noch mehr verschlimmbessert werden.
Entlastet die ebenfalls noch von der Ampel geplante Senkung der Netzentgelte beim Strom die Industrie in der aktuellen Krise denn ausreichend?
Durchaus. Man muss wissen: Ein Großteil der Industrie hat anteilig am Bruttoproduktionswert geringe Energiekosten. Die Industrie pauschal zu entlasten, ist teuer und ineffizient. Die energieintensive Industrie sollte bei der Transformation besser über gezielte Investitionshilfen unterstützt werden. Unternehmen können ihre Energiekosten senken durch mehr Energieeffizienz und die eigene Produktion erneuerbarer Energien.
Wie sieht es beim Deutschlandticket aus, für das der Bund die Zuschüsse regeln müsste? CSU-Chef Markus Söder will es in der jetzigen Form nicht weiterführen, sondern das Geld lieber in die Infrastruktur stecken.
Der völlig falsche Weg. Das Deutschlandticket ist erfolgreich. Es sollte nicht nur fortgeführt, sondern sogar noch verbilligt werden. Das stärkt die Akzeptanz und hilft allen Einkommensschichten. Wir brauchen dringend eine Verkehrswende und eine Entlastung auch von einkommensschwachen Haushalten. Mehr Geld für die Schiene sollte trotzdem aufgewendet werden, mit einer Reform der Schuldenbremse.
Die nächste Bundesregierung dürfte von der Union geführt werden, wahrscheinlich zusammen mit der SPD oder den Grünen als Juniorpartner. Kann das bei Energie und Klimaschutz eine echte "Fortschrittskoalition" werden? Oder drohen Rückschritte?
Sie haben die FDP vergessen, das ist ja die Wunschkoalition der Konservativen. Mit ihr drohen Rückschritte. Es ist zu vermuten, dass fossile Energien gestärkt und der endlich wieder in Fahrt kommende Ausbau erneuerbarer Energien ausgebremst werden.
Es ist damit zu rechnen, dass zum Beispiel noch mehr Gasförderungen genehmigt werden und fossile Verbrennungsmotoren unterstützt werden. Das ist fatal, der Autoindustrie wäre mehr geholfen mit einer konsequenten Ausrichtung auf Elektromobilität. Mit Grünen oder SPD könnten derartige Rückschritte vermutlich vermindert werden.
Die Union will immerhin an der Klimaneutralität bis 2045 festhalten. Das heißt, es muss vor allem in den Sektoren Verkehr und Gebäude viel mehr als bisher passieren. Sehen Sie hier positive Ansätze bei den möglichen zukünftigen Regierungspartnern?
Nicht wirklich. Dazu bräuchten wir das Deutschlandticket, aber auch eine deutlichere Förderung des Schienenverkehrs, des ÖPNV und der energetischen Sanierung. Dazu muss massiv investiert werden. Mit der jetzigen Beibehaltung der Schuldenbremse wird das kaum zu erreichen sein.
Die Unionsparteien wollen die CO2-Bepreisung, die bei Gebäuden und Verkehr 2021 eingeführt wurde, zum zentralen Instrument der Klimapolitik machen. Kann das funktionieren?
Das kann funktionieren, würde allerdings zu einem stark steigenden CO2-Preis führen. Dann muss man den Menschen sagen, dass der Benzinpreis massiv steigen wird, genauso wie die Heizöl- und Gaspreise. Ohne die Einführung eines Klimagelds würde dies einkommensschwache Haushalte überproportional stark belasten.
Die Energiewende soll nach den Vorstellungen der Union insgesamt günstiger werden, etwa durch den Bau von Strom-Freileitungen statt Erdverkabelung und durch mehr Technologieoffenheit, etwa auch durch Nutzung von "blauem" Wasserstoff aus Erdgas. Richtiger Ansatz?
"Technologieoffenheit" bedeutet meistens, dass die alte Technologie möglichst lange offen gehalten werden soll, und ist somit eher eine Technologie-Modernisierungsbremse. Blauer Wasserstoff ist nicht emissionsfrei und außerdem teuer. Nur aus erneuerbaren Energien hergestellter Wasserstoff, also grüner Wasserstoff, sollte zum Einsatz kommen.
Die Union will auch die zuletzt abgeschalteten Atomkraftwerke möglichst reaktivieren, liebäugelt zudem mit Mini-Reaktoren und Kernfusions-Kraftwerken. Was davon hat Chancen?
Nichts. Die Atomkonzerne selbst wollen keine Reaktivierung der Atomkraftwerke. Die neueren Konzepte sind in Wahrheit 60 Jahre alt und haben kaum eine Chance auf Realisierung. Es würde Jahrzehnte dauern, bis wir eine Lösung hätten. Diese Zeit haben wir nicht. Zudem ist Atomkraft eine extrem teure Variante und würde die Energiewende-Kosten explodieren lassen.
Aber zum Beispiel in den USA soll ein 2019 stillgelegtes AKW, ein Block in Harrisburg, wieder angeschaltet werden. Wieso soll das hierzulande nicht klappen?
Ein Großteil der Kraftwerke hat mit dem Rückbau bereits begonnen. Das ist irreversibel. Und wir haben bessere und billige Alternativen. Das sind die erneuerbaren Energien.