Tagebau Inden
Die CO2-Preise steigen, trotzdem ist Braunkohlestrom wieder günstiger als Strom aus Gaskraftwerken. (Foto: Bert Kaufmann/​Wikimedia Commons)

Wer Anfang August die Statistik der AG Energiebilanzen für das erste Halbjahr 2021 zur Kenntnis nahm, konnte das kommende klimapolitische Unheil nahen sehen. Wegen kühler und windarmer Witterung seien gegenüber demselben Zeitraum des Vorjahres jeweils ein Drittel mehr Stein- und Braunkohle verbraucht worden, schrieben die Experten der brancheneigenen Arbeitsgemeinschaft.

Heute nun beziffert der Thinktank Agora Energiewende in einer Kurzstudie das Plus im ersten Halbjahr allein beim Braunkohlestrom auf 14,2 Milliarden Kilowattstunden oder 38 Prozent.

Dem Kohleboom konnten dabei auch die steigenden Preise im europäischen Emissionshandel nichts anhaben. Zwar stieg der CO2-Preis von Januar bis Juni von rund 33 auf 55 Euro je Tonne – zugleich zogen aber auch die Preise für Erdgas und Flüssigerdgas aufgrund einer gestiegenen Nachfrage aus Asien an.

Dadurch habe sich die Profitabilität von Braunkohle- gegenüber Gaskraftwerken wieder verbessert, heißt es in der Studie. Die Kohleanlagen rückten damit in der sogenannten Merit Order – der Reihenfolge, in der je nach Bedarf die Kraftwerksleistung abgerufen wird – vor die Gasanlagen.

Gleichzeitig lag die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien im ersten Halbjahr um 16,4 Milliarden Kilowattstunden unter dem Wert des Vorjahres. Speziell die Windenergie an Land lieferte 20 Prozent weniger Strom als im Vorjahr, weil besonders stürmische Wetterverhältnisse ausblieben.

Dazu kam noch: Der Stromverbrauch erholte sich und liegt laut Studie wieder auf dem Niveau von 2019. Im Ergebnis stiegen dann auch die Strompreise an der Börse – auf bis zu sieben Cent je Kilowattstunde.

All das brachte viel Rückenwind für den Kohlestrom. Die Folge: Die Energiewirtschaft emittierte in den ersten sechs Monaten 2021 etwa 20 Millionen Tonnen CO2 mehr als 2020. Noch einmal 20 Millionen Tonnen mehr könnten es laut Agora Energiewende im zweiten Halbjahr werden.

Klimaziel für 2020 wäre passé

Deutliche Anstiege bei den CO2-Emissionen sagt die Studie für das Jahr 2021 auch in allen anderen Sektoren voraus: ein Plus von bis zu zehn Millionen Tonnen im Verkehr, von sieben bis zehn Millionen Tonnen in der Industrie und von vier Millionen Tonnen bei den Gebäuden.

In der Gesamtschau droht damit in diesem Jahr eine klimapolitisch ziemlich vernichtende Bilanz. Die Treibhausgasemissionen werden laut Agora Energiewende voraussichtlich um rund 47 Millionen Tonnen CO2 gegenüber dem Vorjahreswert ansteigen – das größte Plus seit dreißig Jahren. Die Prognose bewegt sich dabei noch in einer großen Spanne von 20 bis 73 Millionen Tonnen Zuwachs.

Das deutsche Klimaziel für 2020 – die dank Corona erreichte Minderung um 40 Prozent – wäre damit so oder so passé. Gegenüber dem Basisjahr 1990 könne Ende 2021 eine Minderung um nur noch 35 bis 39 Prozent herauskommen, heißt es in der Studie.

Deutschland fällt damit praktisch wieder auf den Vor-Corona-Stand beim Klimaschutz zurück. Besonders beunruhigend daran ist, dass es sich laut Studie nicht nur um pandemiebedingte "Nachholeffekte" handelt, sondern auch um "strukturelle Defizite der Umsetzung der Energiewende".

Hierzu zählen die Autoren vor allem den schleppenden Ausbau der Erneuerbaren, vor allem der Windkraft an Land, sowie die in den letzten zehn Jahren im Wesentlichen stagnierenden Emissionen in den Sektoren Industrie und Verkehr.

Diese Entwicklung wirkt sich auch auf die Einhaltung der gesetzlichen Klimaziele aus. Nur die Energiewirtschaft würde ihr Klimaziel – das nächste ist für 2022 gesetzlich festgelegt – vorerst einhalten, vor allem wegen des enormen Rückgangs der Emissionen im Coronajahr 2020, der offenbar die steigende fossile Verstromung kompensiert.

Pandemie statt Politik

Industrie, Gebäude und Verkehr würden dagegen ihre im Klimaschutzgesetz festgeschriebenen Budgets um zusammen mehr als 30 Millionen Tonnen CO2 überziehen.

Damit nicht genug, erwarten die Studienautoren, dass die Emissionen in diesen Sektoren "auch mittelfristig nicht ausreichend sinken werden", um die jeweiligen Klimaziele zu erreichen. Das gelte längerfristig auch für die Energiewirtschaft, die in den kommenden beiden Jahren auch den Ausstieg aus der Atomenergie zu bewältigen habe.

"Was zu erwarten war, ist eingetroffen. Klimaschützer des Jahres 2020 war die Corona-Pandemie und nicht die Politik", kommentierte der Präsident des Umweltdachverbands DNR, Kai Niebert, die Agora-Daten. "Die dreckige Braunkohle erlebt einen neuen Frühling, der Verkehrssektor setzt seinen Totalausfall fort und fossile Heizungen heizen nicht nur Häuser warm, sondern auch das Klima kräftig auf."

Der DNR verlangt, dass nun alle Ressorts unmittelbar wirksame Sofortprogramme vorlegen. Die Bundesregierung müsse aus dem Sommerloch an den Verhandlungstisch zurückkehren. Niebert: "Die Zeit des 'Weiter so' ist vorbei. Jetzt muss aus ungefähren Zielen konkrete Politik werden."

Auch Agora Energiewende hält ein Sofortprogramm für alle Sektoren für nötig, allerdings erst zu Beginn der nächsten Legislaturperiode.

Für Christoph Bals von der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch muss das Klimakabinett "umgehend Maßnahmen ergreifen, um die Volllaststunden der dreckigsten Kohlekraftwerke zurückzufahren".

Später Kohleausstieg sprengt das Budget

Die Klimabilanz des ersten Halbjahres dürfte auch die Debatte um einen vorgezogenen Kohleausstieg weiter befeuern, da sich der Strommarkt trotz hoher CO2-Preise nicht wie erhofft entwickelt.

Laut einer letzte Woche von der Ökostrom-Genossenschaft Greenpeace Energy vorgestellten Analyse der Beratungsfirma Energy Brainpool würde die hiesige Kohleverstromung noch fast die Hälfte der CO2-Menge verbrauchen, die Deutschland insgesamt zur Einhaltung internationaler Klimaverpflichtungen noch ausstoßen dürfe.

Falls Deutschland wie geplant erst 2038 aus der Kohle aussteigt, werden sich die künftigen CO2-Emissionen aus Kohlekraftwerken voraussichtlich auf fast zwei Milliarden Tonnen addieren, gibt die Studie an. Das seien 45 Prozent des deutschen CO2-Restbudgets.

Bei der Größe des Restbudgets bezieht sich die Studie auf den neuen Weltklimabericht. Danach dürfen, beginnend mit 2020, weltweit nur noch höchstens 400 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre gelangen. Nur so ließe sich eine Erderhitzung von mehr als 1,5 Grad abwenden – zumindest mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln.

Deutschland dürfte dann entsprechend seinem Anteil an der Weltbevölkerung nicht mehr als 4,4 Milliarden Tonnen CO2 emittieren, heißt es bei Greenpeace Energy. Andere Vorgaben wie das kürzliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts gehen allerdings von einem deutschen Budget aus, das noch um ein Drittel höher ist.

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