
Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.
Klimareporter°: Herr Graßl, der Ausbau der Erneuerbaren wird mit der wahrscheinlichen neuen Koalition von CDU, CSU und SPD weitergehen, wenn auch zu langsam, prognostiziert der Energieforscher Volker Quaschning. Gar keine Konzepte sieht er bei den künftig Regierenden aber für die Wärme- und Verkehrswende. Wird der Klimaschutz in den nächsten vier Jahren auf der Stelle treten?
Hartmus Graßl: Vor Bildung der schwarz-roten Koalition haben die Grünen, die im neuen Bundestag wohl in der Opposition auf Einfluss bei klimapolitischen Entscheidungen nur noch hoffen können, noch eine sehr große Chance bekommen: Sie konnten aus der halben Billion für die Infrastruktur in Deutschland den Klimaschutz mit einer entsprechenden Geldmenge ausstatten – sofern der alte, noch existierende Bundestag das Mandat zur Grundgesetzänderung mit Zweidrittelmehrheit ergreift und die Teilaushebelung der Schuldenbremse beschließt.
Die grüne Noch-Regierungspartei könnte damit auch noch Einfluss nehmen auf die Regierungsentscheidungen für die Wärme- und Verkehrswende. Denn diese beiden Bereiche sind der noch vorhandene größere Einflussbereich für die fossile Lobby. Der Stromsektor wird dagegen für die Verteiler der fossilen Energieträger zu einem immer weiter schrumpfenden Nischenmarkt.
Für mich als Physiker ist es unverständlich, dass die Wärmepumpe zum Heizen von Gebäuden bei vielen von uns und auch in den Standardmedien einen so schlechten Ruf hat. Unsere Nachbarländer im Norden und auch die Schweiz sehen das schon lange anders.
Die Wärmepumpe holt, über alle Gebäudetypen gemittelt, etwa zwei Drittel der Wärmenergie aus der Umwelt und setzt dafür nur ein Drittel in Form von elektrischer Energie ein.
Wenn allerdings der Strompreis für den Normalhaushalt mehr als das Dreifache des Gestehungspreises einer Photovoltaik- oder Windenergieanlage beträgt, dann ist doch klar, wo die Beschleunigung für die Wärmewende herkommen kann: niedrigere Energiesteuer und geringere Netzentgelte.
Das führt mich direkt zur anderen Spielwiese der fossilen Lobby: Die Verkehrswende wird von ihr mit dem Schlagwort Technologieoffenheit ausgebremst, denn damit ist meist das Festhalten am Verbrennungsmotor gemeint – und in ferner Zukunft E‑Fuels. Die für letztere aus rein physikalischen Gründen zur Herstellung notwendige hohe Energiemenge macht sie "sauteuer", also zur Luftnummer.
Insgesamt stehen dem Klimaschutz in Deutschland trotz der vergangene Woche möglich gewordenen Rettungsaktion schwere Zeiten bevor, denn eine kräftige Lobby gibt nicht so schnell auf.
Für den Klimaschutz gewinnt in den unruhigen Zeiten ein Argument an Gewicht: Wirksame Klimamaßnahmen brächten auch mehr Sicherheit, Resilienz und Unabhängigkeit für ein Land. In einer Studie warnen Klimaforscher und der BND vor den Folgen des Klimawandels für die nationale Sicherheit. Ist Klimaschutz neuerdings besser als das Aufrüsten mit Waffen?
Die Sicherheit jedes Landes hängt immer stärker vom globalen Klimaschutz ab. Denn mit der Erderwärmung steigen nicht nur die Kosten für die Beseitigung der Schäden durch klimabedingt häufigere Wetterextreme, sondern auch die Zahlen der aus Afrika und dem Nahen Osten an die europäischen Grenzen Fliehenden.
Also wird die Welt durch den Klimawandel generell unsicherer. Ein steigender Preis für CO2-Emissionen erhöht die Sicherheit ebenso wie eine erhöhte Verteidigungsfähigkeit oder eine kluge Einwanderungspolitik.
Klimaschutz bedeutet weitreichende und über Jahrhunderte wirkende erhöhte Widerstandsfähigkeit einer Gesellschaft. Angesichts der zurzeit wegen der Bedrohung durch fremde Waffen überhitzt diskutierten Aufrüstung muss deshalb der Klimaschutz ebenso in die Überlegungen zur nationalen und europäischen Sicherheit einbezogen werden.
Genau das wünsche ich mir als Bürger von einer klugen Politik. Wir wählen unsere Politiker ja auch, um bei schwierigen Entscheidungen möglichst viel Verstand mit dem Blick über weit mehr als eine Legislaturperiode einzusetzen.
Die Nordatlantikströmung, der sogenannte Golfstrom, sorgt in Europa für ein gemäßigtes und erträgliches Klima. Manche Experten befürchten, Europas "Heizung" könnte schon in diesem Jahrhundert komplett ausfallen. Dem widersprechen nun andere Klimaforscher in der Zeitschrift Nature. Was ist klimatisch los im Nordatlantik?
Wir in West-, Nord- und Mitteleuropa haben unsere überdurchschnittliche Gesellschaftsentwicklung ganz wesentlich der Warmwasserheizung durch den Nordatlantik zu verdanken. Pro Sekunde fließen etwa 15 bis 20 Millionen Kubikmeter Wasser in den oberen Etagen des Nordatlantiks nordwärts, wodurch es bei uns angenehm warm wird. So liegt die Jahresmitteltemperatur des oberen Ozeanwassers vor Südnorwegen um etwa elf Grad über der mittleren Temperatur auf diesem Breitenkreis.
Es wird viel geforscht, um zu ergründen, ob der in den letzten Jahren leicht geschwächte Wärmetransport vor Europa weiter zurückgeht oder gar bei weiterer Erwärmung schon in diesem Jahrhundert erschlafft.
Wie oft in der Wissenschaft dauert es lange, bis eine so schwierige Frage einigermaßen sicher beantwortet werden kann. Zurzeit ist das aus meiner Sicht noch nicht möglich.
Aber eines ist sicher: Je rascher die anthropogene Erwärmung gebremst wird, umso eher bleibt uns diese Warmwasserheizung vor Europa erhalten und damit unsere Chance für eine gedeihliche Entwicklung. Der zentrale Hebel für viele Fragen auf diesem Planeten ist eben: rasche Beendigung der menschengemachten Erwärmung.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Ein auf rasche Entscheidungen drängender, im Regieren unerfahrener, aber machtgeiler Mann – der Kanzlerkandidat Friedrich Merz – erlebte jetzt die Überzeugungskraft der im Regieren erfahrenen Frauen einer Partei, deren leitende Mitglieder im Wahlkampf immer wieder beleidigt worden waren.
Die Grünen-Fraktionsvorsitzenden Katharina Dröge und Britta Haßelmann ergriffen in dieser Woche die Gunst der Stunde, um – trotz Verlusten bei der Bundestagswahl und der roten Linie des bayerischen Anhängsels der Konservativen, aber in einer noch bis zum 25. März amtierenden Regierung mit Restmacht ausgestattet – eine die ganze kommende Legislaturperiode mitprägende Politik durchzusetzen.
Noch nie habe ich als jetzt fast 85-Jähriger erlebt, wie in wenigen Tagen Frauen eine so weitreichende Politikänderung erreicht haben. Die Mittel für Klimaschutz im kommenden Jahrzehnt sind auf 100 Milliarden Euro erhöht worden.
Auch lenkt das Wort "zusätzlich" in der Vereinbarung das neue Geld auf neue Infrastruktur, und die Wahlversprechen der zukünftigen Koalitionäre für soziale Wohltaten sind aus der Schuldenorgie wohl herausgenommen.
Diese Vereinbarung ist für mich außerdem ein Beispiel für eine gut funktionierende Demokratie, denn auch die angerufene Justiz hat die verfassungsmäßige Korrektheit bestätigt. In trockenen Tüchern ist das Ganze aber erst Ende nächster Woche nach der Zustimmung im Bundesrat, der die Hilfen für die Kommunen im Infrastrukturpaket eigentlich nur durchwinken kann.
Fragen: Jörg Staude