Zwei Tage nach dem Messerangriff im bayerischen Aschaffenburg wandte sich der CDU-Spitzenkandidat Friedrich Merz mit der rhetorischen Frage an die Öffentlichkeit: "Was soll denn noch passieren?"
Es war der Auftakt einer schrillen Asyldebatte. Dreh- und Angelpunkt der öffentlichen wie politischen Diskussion ist eine gefühlte Unsicherheit und ein vermeintlicher staatlicher Kontrollverlust. Dass bundesweite Kriminalitätsstatistiken dieses Gefühl nicht faktisch unterfüttern können, hat sich in der Debatte längst verloren.
Mit ausdruckslosen Gesichtern saß die CDU/CSU-Fraktion am Mittwoch vor zwei Wochen im Bundestag, während die Abgeordneten der AfD jubelten. Kurz zuvor wurde das Ergebnis einer Abstimmung verkündet, bei der – ebenso erwartbar wie politisch brisant – ein Unionsantrag mit Vorschlägen zur Verschärfung der Migrationspolitik die nötige Mehrheit nur mithilfe der AfD-Stimmen erreichen konnte.
Mit einem rechtlich unverbindlichen Fünf-Punkte-Plan soll dem über Jahre von rechter und konservativer Seite genährten Unsicherheitsgefühl begegnet werden. Die Union will sich so als Partei von Recht und Ordnung profilieren – ironischerweise mit einem Antrag, dessen Forderungen gleich mehrfach gegen geltendes EU-Recht verstoßen.
Das daran angeschlossene und rechtlich bindende Zustrombegrenzungsgesetz scheiterte trotz der Stimmen der AfD im Bundestag zwei Tage später.
Eine tatsächliche Problemanalyse ist einem polemischen Migrations-Wahlkampf zum Opfer gefallen. Es geht um eine kaum umzusetzende Ausweitung der Grenzkontrollen, EU-rechtswidrige Zurückweisungen von Asylsuchenden an der deutschen Grenze und mehr Befugnisse für die Sicherheitsbehörden.
Expert:innen mahnen derweil, die Lebensumstände von Geflüchteten, die schlechte psychosoziale Versorgung, eingesparte Bildungsangebote, die zum Beispiel das Erlernen der deutschen Sprache erschweren, und weitere Aspekte, die einer Inklusion im Wege stehen, in den Blick zu nehmen.
Während diese Punkte zumindest noch als Randnotiz stattfinden, wird die Frage nach den Fluchtursachen gar nicht erst gestellt. Doch wer über Flucht redet, darf über ihre Ursachen nicht schweigen. Und wer Interesse an einer ehrlichen Migrationsdebatte hat, kommt um das politische Tabuthema Klimakrise nicht herum.
Millionen verlieren durch Fluten und Stürme ihr Zuhause
Jedes Jahr treibt die Erderwärmung Millionen von Menschen in die Flucht. Allein letztes Jahr in China haben Flutkatastrophen weit über 100.000 Menschen ihr Zuhause genommen. Im Amazonasgebiet litten laut einem UN-Bericht knapp eine halbe Million Kinder unter Nahrungs- und Wasserknappheit. Schuld daran war eine Dürre, die 2023 begann und sich 2024 fortsetzte.
Wie viele Menschen sich aufgrund der Folgen der Klimakrise in Bewegung setzen, ist schwer zu beziffern. Meist steht eine Kombination von Gründen hinter der Entscheidung, fortzugehen. Zudem ist nicht jedes Extremwetterereignis gleich Klimakrise.

Aber dass der Klimawandel schon heute zu den wichtigsten Faktoren zählt, daran gibt es keinen Zweifel. Eine Attributionsanalyse kam dann auch zu dem Ergebnis, dass die Amazonas-Dürre durch den Klimawandel 30-mal wahrscheinlicher wurde.
Bisher gebe es noch zu wenig Studien, die Fluchtbewegungen als Folge der Klimaveränderungen untersuchen, erklärt Klima- und Migrationswissenschaftler Jacob Schewe vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. "Klar ist, dass der Klimawandel bereits heute die Lebensgrundlagen sehr vieler Menschen beeinträchtigt und Gefahren für Leib und Leben erhöht, etwa durch stärkere Hitzewellen, Dürren oder Waldbrände."
Die allermeisten überschreiten bei ihrer Flucht keine Landesgrenzen. Sie sind Geflüchtete im eigenen Land. Das Internal Displacement Monitoring Centre veröffentlicht dazu jedes Jahr aktuelle Zahlen.
2023 mussten sich 47 Millionen Menschen in ihrem eigenen Land auf die Flucht begeben. 26,4 Millionen Menschen verloren ihr Zuhause durch Naturkatastrophen, deutlich mehr als aufgrund von Kriegen oder bewaffneten Konflikten. Die Zahlen für 2024 sind noch nicht veröffentlicht.
Hochwasser hat zehn Millionen Menschen vertrieben. Weitere knapp zehn Millionen sind aufgrund von Stürmen geflohen. Manche von ihnen können nach einiger Zeit wieder zurückkehren, andere bleiben auf der Flucht.
Nach deutschem Asylrecht gilt Klima nicht als Fluchtursache. Dementsprechend wird auch nicht erfasst, wie viele Menschen den Weg nach Europa antreten, weil die Klimakrise ihnen die Lebensgrundlage geraubt hat.
75 Prozent kommen aus den besonders bedrohten Ländern
In Ostafrika sind die Folgen der Klimakrise längst einer der Hauptgründe für Fluchtbewegungen. Dabei setzen häufigere und stärkere Extremereignisse auch der Infrastruktur und der wirtschaftlichen Produktivität von Ländern zu, erläutert Schewe.
Ostafrika und viele weitere Regionen stoßen damit zunehmend an ihre Belastungsgrenzen. Knapp 75 Prozent aller Geflüchteten leben laut UN-Flüchtlingshilfswerk in den Ländern, die am stärksten von der Klimakrise bedroht sind.
In Dadaab im Osten Kenias leben 300.000 Geflüchtete in einem der größten Camps der Welt. In kleinen, runden Zelten mitten in der Wüste – feste Gebäude sind nicht erlaubt – wohnen viele der Menschen seit Jahrzehnten.
Der Großteil kommt aus Somalia und ist in den 1990er Jahren vor dem Bürgerkrieg oder später vor dem anhaltenden bewaffneten Konflikt geflohen.

In den letzten Jahren nahm der Anteil der Klimageflüchteten zu. Ostafrika litt in den vergangenen Jahren unter den trockensten Bedingungen seit mehr als vier Dekaden. Auch hier brachte eine Attributionsstudie mehr Klarheit. Die lang anhaltende Trockenheit, die über drei Millionen Menschen in die Flucht trieb, wurde durch den Klimawandel um das 100‑Fache wahrscheinlicher.
Im Frühjahr 2024 kam dann endlich der lang ersehnte Regen. Allerdings konnten die ungewöhnlich großen Wassermassen in dem ausgetrockneten Boden nicht versickern. Verheerende Fluten waren die Folge. Sie schwemmten Häuser und Äcker weg und zwangen über 400.000 Menschen in die Flucht. In den Monaten danach verbreiteten sich Krankheiten wie Cholera und Malaria.
Friedrich Merz dürfte also vielen Betroffenen aus der Seele sprechen, wenn er fragt, was denn noch alles passieren solle. Wie desaströs müssen die Folgen der Krise sein, bis vor allem die Hauptverursacher, also Industrienationen und Schwellenländer, angemessen handeln? Laut dem Weltklimarat IPCC leben mehr als drei Milliarden Menschen in "hoch gefährdeten" Regionen.
Mit jedem Zehntelgrad Erderwärmung wächst die Zahl. Die Gründe, weshalb Menschen sich auf längere, stets ungewisse Fluchtrouten begeben, sind vielfältig. "Migration ist ein solch komplexes Phänomen", betont auch Jacob Schewe, weshalb verlässliche Prognosen schwierig seien.
Gerechte Klimapolitik statt Abschottung
Zukünftige Migrationszahlen seien stark von Annahmen zum Beispiel über die wirtschaftliche Entwicklung von Ländern des globalen Südens abhängig, heißt es in dem jüngsten Sachstandsbericht des IPCC. Allein für die gefährdetsten Regionen – Afrika südlich der Sahara sowie Lateinamerika und Südasien – gehen die Autor:innen davon aus, dass bis Mitte des Jahrhunderts zwischen 31 und 143 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen müssen.
Die Journalistin Fardowsa Sirat Gele lebt seit ihrer Geburt in dem Camp bei Dadaab. In dem Film "Radio Dadaab" zeigt sie die Realität vor Ort. Hauptziel des Films sei es, "der Welt zu zeigen, dass es Menschen gibt, die unter Umweltproblemen wie Dürre und Vertreibung leiden", sagte die Journalistin im Gespräch mit dem britischen Klimaportal Carbon Brief. Sie wolle mit dem Film einen empathischen Blick auf Geflüchtete werfen.
Wie ungerecht Folgen und Verantwortung der Klimakrise verteilt sind, wird nirgends offensichtlicher als in Ostafrika. Die über 500 Millionen Menschen der Region sind für gerade mal ein Viertelprozent der historischen globalen Treibhausgase verantwortlich.
Deutschland allein hat mit vier Prozent der historischen Gesamtemissionen mehr ausgestoßen als der gesamte afrikanische Kontinent.
Statt in Migrationsdebatten mit rechts geprägten, naturalistischen Sprachbildern um sich zu werfen – Migrationswellen oder Zustrombegrenzungsgesetz – braucht es eine Debatte über die eigene Verantwortung für Fluchtursachen. Fluchtbewegungen sind kein Naturphänomen. Sie sind zum allergrößten Teil die Folge menschlichen Handelns – neben Kriegen und Ausbeutung eben auch des menschengemachten Klimawandels.
Klimaanpassung sei nötig, aber keineswegs ausreichend, erklärt Schewe. "Solange die globalen Netto-Treibhausgasemissionen nicht auf null sinken, werden die Folgen immer schlimmer."
Diese Probleme lassen sich nicht mit Abschottung und ganz sicher nicht mit Symbol- und Symptompolitik lösen. Eine verantwortungsvolle Debatte kommt um Klimapolitik und Zusammenarbeit mit dem globalen Süden auf Augenhöhe nicht vorbei.
Dazu gehört auch eine Diskussion über Reparationszahlungen, faire Handelsabkommen und einen Schuldenschnitt für die Länder des globalen Südens.