IC-BCE-Chef Vassiliadis redet vor einem riesigen Schriftzug
Im Kohlebergbau gibt man sich immer noch eine Zukunft: IG-BCE-Chef Michael Vassiliadis beim letztjährigen Gewerkschaftskongress. (Foto: IG BCE)

Nüchtern betrachtet ist die Aufregung, die sich in Deutschland um Kohle und Energie aufschaukelt, nicht zu verstehen. Laut der offiziellen Bundesstatistik erbrachte der Bereich "Bergbau und Gewinnung von Steinen und Erden" im Jahr 2015 lediglich 0,2 Prozent der inländischen Wertschöpfung. Selbst die ganze Energieversorgung – also Kraftwerke, Netze und so weiter – kam auf nur 1,9 Prozent.

Nur mal zum Vergleich: Mit der Herstellung von Kraftwagen und Kraftwagenteilen, wie die Statistiker den Posten nennen, schuf Deutschland in dem Jahr rund 4,5 Prozent der Werte, die am Ende ein Industrieland ausmachen. Ein Grund übrigens, warum die Dieselkrise für die Bundesrepublik viel schlimmer ist als ein paar abzuschaltende Kraftwerke.

Auch bei der Beschäftigung ist die so heiß diskutierte Energieversorgung eine der kleinsten Branchen. Selbst in Kohleregionen liegt der Anteil der in der Branche Tätigen an allen Beschäftigten laut einer Kurzstudie der Energieberatungsfirma Arepo Consult meist im Promille-Bereich: bei 0,13 Prozent in Nordrhein-Westfalen, in Sachsen bei 0,12, in Sachsen-Anhalt bei 0,09 und bei knapp einem Prozent in Brandenburg.

Und bis 2030 gehen bundesweit zwei von drei der derzeit in der Braunkohle Beschäftigten aus Altersgründen in den Ruhestand.

Leben von "Nagelstudios und Baumärkten"?

Gerade die Zukunft der Beschäftigung wird hitzig bis demagogisch diskutiert. So verkündete der Chef der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), Michael Vassiliadis, im Frühjahr dieses Jahres, von "Nagelstudios und Baumärkten" könne die Lausitz nicht leben.

Das ist eine dreifache Unterstellung. Erstens hat niemand bisher gefordert, dass Kohleregionen künftig von Nagelstudios und Baumärkten leben sollen. Zweitens wird die Arbeit in Dienstleistungen und im Handel in einer Weise abgewertet, als würden da – im Unterschied zu irgendwelchen Malochern – keine richtigen Werte geschöpft.

Drittens knüpft Vassiliadis geschickt an ein elitäres Selbstverständnis an, das sich seit Jahrzehnten in dem Spruch kondensiert: "Ich bin Bergmann – wer ist mehr?"

Kürzlich berichtete ein Mitglied der Kohle-Kommission, er habe einen Blick in den Tarifvertrag der mitteldeutschen Braunkohle werfen und entdecken können, dass ein Schichtleiter im Tagebau mehr als ein Professor verdiene. Nun könne er verstehen, warum Firmen, die auch in den Ost-Kohleregionen händeringend nach qualifizierten Leuten suchen, bei den Kumpeln nicht landen – die Bezahlung in den anderen Branchen ist einfach nicht gut genug.

Deswegen macht sich die Idee breit, kommende Ex-Bergarbeiter zum Jobwechsel zu motivieren, indem man ihre Löhne dann aus Steuermitteln aufs gewohnte Kohleniveau aufstockt.

Zu Ende gedacht bedeutet dieser Vorschlag allerdings auch, dass dann ein sehr gut verdienender Ex-Kumpel neben einem normal – also meist deutlich schlechter – Verdienenden dieselbe Arbeit verrichtet. Ob das dem sozialen Frieden in einer Firma zuträglich ist, ist fraglich.

Wie ein Mantra fordern deshalb die Kohleländer, die wegfallenden Energie-Jobs müssten durch gleichwertige Industrie-Arbeitsplätze ersetzt werden – doch durch welche?

Im Zwischenbericht der Kohlekommission, der sich vor allem dem Strukturwandel widmet, sind die Vorschläge, wie man die Kohleregionen weiterentwickeln will, äußerst bieder: mehr Schiene, mehr Straße und mehr Mobilfunk. Selbst die "Aufrüstung der Sicherungstechnik im City-Tunnel Leipzig" wird in dem Papier als Zukunftsinvestition gelistet.

Ist Sachsen so arm, dass es Strukturhilfen vom Bund braucht, um einen kleinen Bahntunnel herzurichten? Man könnte scherzen, wäre es nicht so traurig.

Den letzten Offenbarungseid, dass gerade die Ost-Länder bisher nicht wissen, was sie mit den von ihnen eingeforderten 60 Milliarden Euro anfangen sollen, leisteten Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt diese Woche. Sie gründeten eine eigene "Arbeitsgruppe Strukturwandel" in der Kohlekommission und verschoben mit dem Beistand der Bundeskanzlerin im Rücken den Endbericht auf Februar 2019.

Angst vor dem Blackout geschürt

So viel Willkür demonstriert erneut: Die Kohle ist nicht nur tariflich ein Staat in Staate, sie ist es auch politisch und rechtlich. So hebelte das deutsche Bergrecht seit 1937, als es durch die Nazis aus Kriegsgründen unangreifbar gemacht wurde, bislang zuverlässig jeden rechtlichen Widerstand aus.

Der jüngste vom Gericht verhängte Rodungsstopp beim Hambacher Forst ist deswegen so bemerkenswert, weil erstmals in Deutschland europäisches Naturschutzrecht das deutsche Bergrecht in die Schranken wies.

Der wichtigste Grund, warum der Staat seine schützende Hand über einen vergleichsweise kleinen Wirtschaftszweig und vor allem über sein bisheriges Rückgrat, die fossile Kraftwerkswirtschaft, hielt, ist die sogenannte Versorgungssicherheit, auch als "Angst vorm Blackout" bekannt.

Damit ließ sich leichter Hand alles abwehren, was die Kohle infrage stellen könnte. Kostendeckende Wasserentgelte für Tagebaue? Brennstoffsteuer? CO2-Steuer? Strengere Schadstoff-Grenzwerte? Alles nicht so wichtig.

Haftung für Bergbauschäden oder andere Ewigkeitslasten? Einschränkungen an den bis weit nach 2040 reichenden Genehmigungen? Kein Thema.

Das mit dem Kohle-Staat im Staate funktionierte prächtig, solange Kritiker als Alternative nur den Verzicht auf Strom oder wenig Umweltfreundliches wie große Wasserkraftwerke oder gar Atomkraft parat hatten.

Das hat sich gründlich geändert. Erneuerbare Energien können inzwischen nicht nur genauso viel Strom erzeugen wie fossile – sie schaffen das auch zu vergleichbaren Preisen, sind marktwirtschaftlich also konkurrenzfähig. Der Kohleausstieg käme deswegen sogar dann, beschlösse Deutschland den Nichtausstieg.

Allerdings ist dieser Weg mittlerweile verbaut, der Klimawandel wartet nicht, bis der Markt sein Werk getan hat. Und weil Deutschland beim Kohleausstieg de facto ein Jahrzehnt verschenkt hat, muss nun kurzfristig eine enorme Menge CO2 gespart werden und am besten bis 2025 die Hälfte der Kohlekraft vom Netz. Für die andere Hälfte bliebe dann mehr Zeit.

Bis spätestens 2035 ist der Kohleausstieg aber ohne Strukturbrüche zu schaffen und ohne dass ein Bergarbeiter ins Bergfreie fällt. Man muss sich nur von diesem Kohle-Staat befreien.

Anzeige