Manchmal agiert Politik weitsichtig. Die Einrichtung eines Innovationsprogramms für das Rheinische Braunkohlerevier verankerte die neue Regierungskoalition in Nordrhein-Westfalen, bestehend aus SPD und Grünen, 2010 im Koalitionsvertrag. Ziel war es, "aktiv für den Aufbau einer neuen, nachhaltigen Wirtschaftsstruktur im rheinischen Revier einzutreten". Für eine Landesregierung im Kohleland NRW war das einmalig.
Doch der Gestaltungswille währte nicht lange, schnell war der Optimismus dahin. Schon 2013 kam der Bruch. Der Arbeitsauftrag sollte, hieß es damals aus dem Beirat des Innovationsprogramms, inhaltlich und räumlich enger gefasst werden. Die Projektleitung, die Industrie- und Handelskammer Aachen, warf hin, hatte keine Lust, Vorschläge "entlang der Ziele des Koalitionsvertrages" zu erarbeiten, sich zum Handlanger machen zu lassen.
Dass die Politik das Innovationsprogramm nachträglich verengt hat, kann Manfred Fischedick, Vizepräsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, nicht nachvollziehen. "Statt Projekte mit Zukunftsaussichten zu fördern, hat man mit der Verengung Innovationsprozesse gestoppt." Der jetzigen Landesregierung aus CDU und FDP empfiehlt der Energieforscher, zum ursprünglichen Ansatz zurückzukehren.
Denn die wirtschaftliche Transformation von Kohleregionen ist keine Kleinigkeit. "Für jede Region müssen individuelle Lösungen gesucht werden", sagt Pao-Yu Oei vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Das Rheinland bringe andere Voraussetzungen mit als die Lausitz.
"Kohlereader" legt Zusammenhänge offen
Deshalb gebe es auch nicht das eine Instrument für den Strukturwandel, so der Energiewende-Experte. Man müsse frühzeitig beginnen, mit den Leuten vor Ort reden und die vorhandenen Kompetenzen aufgreifen und weiterentwickeln.
Doch noch scheut sich die Politik davor, umfassende Konzepte für die Kohleregionen zu entwickeln. Dabei sind die ökonomischen Ausgangsbedingungen für einen Strukturwandel im Rheinischen und im Mitteldeutschen Braunkohlerevier gut. Die Lausitz dagegen ist strukturschwach, die Braunkohleindustrie trägt in der Region wesentlich zur Wirtschaftskraft bei.
Umso notwendiger sei es, mit gezielter Strukturpolitik den negativen Konsequenzen des sich abzeichnenden Kohleausstiegs vorzubeugen, sagt Oei. "Wenn Regionen sich nicht bewegen, werden sie dauerhaft verlieren", warnt der DIW-Forscher.
Wie der Kohle-Ausstieg in Deutschland gelingen kann, haben deshalb Forscher von DIW, Wuppertal Institut und Ecologic Institut in einer gemeinsamen, am Freitag in Berlin vorgestellten Studie untersucht. Dafür nahmen die Forscher energiewirtschaftliche Aspekte, klimapolitische Ziele, technische Machbarkeit, die Möglichkeit des Strukturwandels sowie die zur Verfügung stehenden Instrumente unter die Lupe.
"Wir haben den Versuch gemacht, aus einer Vielzahl von Analysen und Studien, die es zum Thema Kohleausstieg gibt, die Zusammenhänge für jeden verfügbar zu machen", erläutert Energieforscher Fischedick. "Das Ziel des Kohlereaders ist, wissenschaftlich neutral über den Kohleausstieg zu informieren", ergänzt die DIW-Forscherin und Energieökonomin Claudia Kemfert. Man wolle zeigen, was der wissenschaftliche Stand ist.
Wer zu lange zögert, riskiert ein abruptes Aus
Die Quintessenz der 140 Seiten umfassenden Publikation: Der Nutzen des Kohleausstiegs übersteigt die Transformationskosten deutlich.
Die gesammelten Fakten sollen für die breite Öffentlichkeit zugänglich sein – und vor allem für die Kohlekommission. Die Kommission, die im Juni das erste Mal tagte, soll noch in diesem Jahr Vorschläge für den Ausstieg aus der Kohle vorlegen.
Dabei ist für Manfred Fischedick nicht das Jahr, in dem das letzte Kohlekraftwerk vom Netz geht, die zentrale Frage, sondern die Treibhausgas-Emissionen, die insgesamt ausgestoßen werden. "Daraus ergibt sich ein simpler Dreisatz", sagt er. Je früher der Kohleausstieg eingeleitet werde, desto mehr Zeit habe man nach hinten raus.
Verabschiede man sich später von der Kohleverstromung, müsse der Ausstieg umso zügiger erfolgen. Auch Claudia Kemfert bestätigt: "Je länger wir warten, desto schneller kommt das Aus."
Redaktioneller Hinweis: Claudia Kemfert ist Mitherausgeberin von Klimareporter°