Es gibt kaum einen anderen Bereich des täglichen Lebens, wo Alltagsdenken und wahre Verhältnisse so auseinanderklaffen wie im Verkehr. Staus abbauen, indem Straßen mehr und breiter werden? Mit dem Bleifuß auf dem Gaspedal Zeit sparen? Die Parkplatznot beheben, indem jedes Haus eine unterirdische Garage bekommt?
Auf Dauer funktioniert das nicht. Das wissen wir. Tatsächlich aber sind die Umstände, die die Welt des Verkehrs bestimmen, noch abstruser, als selbst Kritiker der automobil-individuellen Welt es sich bisher eingestanden haben, der Autor eingeschlossen.
Schuld an dieser Erkenntnis ist ein kürzlich erschienenes Buch mit dem allein schon das Denken auf den Kopf stellenden Titel: "Wer langsam macht, kommt eher an." Geschrieben hat das Werk Roland Stimpel. Der Journalist gilt inzwischen als der Experte, der dem vernachlässigten Fußverkehr bundesweit eine Stimme gibt, seit einigen Jahren auch als Vorstand des Fußverkehrs-Fachverbands FUSS e.V.
Das neue Buch ist längst nicht das erste, bei dem Stimpel als Autor in Erscheinung tritt, das erste aber, das er ganz auf eigenen Namen schrieb, sagt er. Auf etwas mehr als 200 Seiten bringt Stimpel alltägliche Sichten auf das, was sich da draußen als Mobilität abspielt, zu Fall – beispielsweise das den Kindern eingebläute Axiom: Bei Rot bleibe stehen, bei Grün darfst du gehen.
Denn das grüne Versprechen, beim entsprechenden Ampellicht sicher über die Straße zu kommen, ist längst passé. In Deutschland kommen bei Ampel-Grün, schreibt Stimpel, jedes Jahr mehr Fußgänger zu Schaden als bei Rot.
Die Gründe? Autofahrer geben extra Gas und glauben, noch bei Gelb-Rot die Ampel zu passieren. Oder sie stauen Kreuzungen rücksichtslos zu und zwingen Fußgänger zu gefährlichen slalomartigen Abwegen.
Am gefährlichsten aber sind für Fußgänger mit grüner Ampel die Links- und Rechtsabbieger, denen straßenrechtlich erlaubt wird, die Überwege zu queren, die zugleich mit Grün für Fußläufige freigegeben sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie dabei von Fahrzeugen erfasst werden, ist praktisch von vornherein in der Ampelschaltung eingepreist, macht Stimpel deutlich.
Auf fast 20 Seiten breitet er den ingenieurtechnokratischen Wahnsinn aus, der sich hinter dem deutschen Ampelwesen verbirgt. Ziel: Den (Auto-)Verkehr flüssig und schnell halten. Motto: Die Langsamen sind selbst schuld, wenn sie die Schnellen behindern.
Brutale Form der Umverteilung
Auch der Radverkehrs-Lobby greift Stimpel ordentlich in die Speichen. Zwar stimme es, schreibt er, dass mehr als 40 Prozent der Autofahrten in Deutschland kürzer als fünf Kilometer seien und das Fahrrad dort eine gute Alternativ sei. Diese Kurzstrecken machten zugleich aber nur rund sechs Prozent aller mit Autos zurückgelegten Kilometer aus.
Würden alle Bis-fünf-Kilometer-Fahrten statt mit dem Auto mit dem Fahrrad zurückgelegt, läge die gesamte Verkehrsleistung der Autos eben immer noch bei 94 Prozent des vorherigen Umfangs. An dem geringen Effekt könnten dann auch schicke und teure Radschnellwege nur wenig ändern, meint Stimpel.
Einem Tempo-Denken als Selbstzweck ist Stimpel abhold und er zerlegt auch den Imperativ, dass ein hohes Tempo auf dem Weg von A nach B am Ende Zeit spart. Allein schon, wenn man auf die soziale Dimension dieser Hatz schaut, müsste sich jeder fragen: Wie viel Lebens- und Arbeitszeit muss ich aufwenden, um die Mehrkosten für das höhere Tempo – in welchem Transportgefäß auch immer – decken zu können?
An dem Punkt angelangt, betrachtet der Leser auch Investitionen aller Art, um das Tempo zu steigern – quasi die Durchlässigkeit des Raumes zu erhöhen –, mit zunehmendem Zweifel. Ist die Bevorzugung der angeblich Schnellen vor den angeblich Langsamen nicht auch eine Art Umverteilung?
Das Buch
Roland Stimpel: Wer langsam macht, kommt eher an. Verkehr abrüsten – Mobilität gewinnen. Edition FUSS, Berlin 2021. 220 Seiten, 14,49 Euro.Stimpel selbst bezeichnet diese Art zu denken als das Kernthema seines Buches. Ihm gehe es um den "Gewinn, den Verlust und die Verteilung von Zeit durch die Organisation von Verkehr", schreibt er.
Der Reiz dieser Sicht liegt nicht allein im Individuellen. Auch eine langsame – modern gesprochen: entschleunigte – Gesellschaft würde viele Ziele offensichtlich schneller erreichen, sei es die Schonung von Ressourcen, der Klimaschutz, die Nachhaltigkeit oder die gerechte Verteilung von Zeit.
Denn wie heißt es bei Stimpel zu Recht: "Die brutalste Form der Umverteilung ist das Herausschinden einiger Sekunden durch höheres Tempo auch auf die Gefahr hin, dass jemand dabei Jahrzehnte seines Lebens verliert."