Eine Stadtstraße, an der die Menschen flanieren und sich treffen, weil der Autoverkehr ganz gering ist.
Wenn sich Politik und Planung an den Bedürfnissen des Fußverkehrs ausrichten, bedeutet das auch eine Rückkehr zum menschlichen Maß. (Grafik: Kristin Rabaschus)

Drei bis fünf Kilometer schaffen Fußgänger in einer Stunde. Sie sind die Langsamsten unter denen, die öffentlichen Raum nutzen, um von A nach B zu kommen. Ob das ein – makabrer – Grund ist, warum es im Fußverkehr verkehrspolitisch im sprichwörtlichen Schneckentempo vorangeht?

In dem Zusammenhang erinnert Roland Stimpel vom Lobbyverband FUSS e.V. gern daran, was in der 1937 in Kraft gesetzten "Verordnung über das Verhalten im Straßenverkehr" (StVO) im Paragrafen 37 von den Fußgängern verlangt wird: "Fahrbahnen und andere nicht für den Fußgängerverkehr bestimmte Straßenteile sind auf dem kürzesten Wege quer zur Fahrtrichtung ... zu überschreiten."

Das Diktum gilt noch über 80 Jahre später. In der geltenden StVO ist in Paragraf 25 zu lesen: "Wer zu Fuß geht, hat Fahrbahnen ... zügig auf dem kürzesten Weg quer zur Fahrtrichtung zu überschreiten."

Der Fußgängerparagraf war auch Forschern des Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu) ein Dorn im Auge. Im Auftrag des Umweltbundesamtes (UBA) hatte das Difu im September 2018, also vor über zwei Jahren, auf mehr als 50 Seiten "Grundzüge einer bundesweiten Fußverkehrsstrategie" vorgezeichnet.

Strenggenommen, schrieben die Forscher, sehe das deutsche Straßenverkehrsrecht "keine explizite Bevorzugung" eines Verkehrsmittels vor. Als vorrangig in der StVO gelte aber die "Flüssigkeit des Verkehrs" – und so kritisierten die Difu-Leute ebenfalls den "Zügig"-und-"quer"-Paragrafen, allerdings ohne auf seinen zweifelhaften Ursprung zu verweisen.

Wer wissen will, warum in Deutschland der Fußverkehr diskriminiert wird und was geändert werden müsste, wird in den Difu-"Grundzügen" an vielen Stellen fündig. Tatsächlich aber schmort die Studie in der Schublade. Seit ihrer Veröffentlichung im Oktober 2018 sind die "Grundzüge", abgesehen von kleineren Korrekturen, "nicht grundlegend inhaltlich weiterentwickelt worden", räumt die zuständige UBA-Fachgebietsleiterin Katrin Dziekan ein.

Überfällige Fußverkehrsstrategie

Untergegangen ist die Idee von einer nationalen Fußverkehrsstrategie aber nicht. Mitte Oktober 2020 beschloss die Verkehrsministerkonferenz, nein: sie bat die Bundesregierung, im Frühjahr 2021 einen Bericht vorzulegen – und jetzt geht es wörtlich weiter – "hinsichtlich der Konzeption einer systematischen und mit Ländern, Kommunen, Forschung und Verbänden intensiv und frühzeitig abzustimmenden Fußverkehrsförderung, einer Fußverkehrsstrategie, einer Anpassung des Rechtsrahmens und der Förderbedingungen im Hinblick auf die Sicherheit und Attraktivität des Fußverkehrs".

Für Roland Stimpel ist eine Fußverkehrsstrategie überfällig. Jeder fünfte Weg in Deutschland werde rein zu Fuß zurückgelegt, mehr als mit Fahrrad, Bahn oder Bus, sagt er. "Der Bund kann und muss hier wichtige Meilensteine setzen." Wie sehr auf diese Weise eine zuvor vernachlässigte Verkehrsart gefördert werden könnte, haben ihm die seit 2002 aufgelegten Nationalen Radverkehrspläne gezeigt.

Auch wenn in Deutschland die Kommunen für den Fußverkehr zuständig sind, hält UBA-Expertin Dziekan eine Unterstützung durch Bund und Länder für notwendig, um den kommunalen Akteuren den Rücken zu stärken und die Bedeutung des Zufußgehens ins Bewusstsein aller zu rücken.

"Das kann in Form einer nationalen Strategie festgeschrieben werden", sagt sie und verweist ebenfalls auf positive Wirkungen der Radverkehrsstrategien, aber auch auf gute Erfahrungen, die Österreich, einige skandinavische Länder und Großbritannien mit nationalen Fußverkehrsplänen gemacht haben.

"Es geht um Richtungsentscheidungen"

Auch für den Thinktank Agora Verkehrswende kommt das Zufußgehen schon viel zu lange zu kurz. "Mit einer nationalen Fußverkehrsstrategie kann der Bund zeigen, dass sich dies ändern soll", sagt Wolfgang Aichinger, Projektleiter für städtische Mobilität. "Länder und Kommunen werden so motiviert und unterstützt, den Fußverkehr konkret vor Ort zu fördern."

Während jede zehnte Autofahrt in Deutschland kürzer als ein Kilometer ist, ging vielerorts der Fußverkehr zurück, kritisiert Aichinger. "Diesen Trend gilt es umzudrehen, für mehr Lebensqualität, aber auch aus Sicht des Klimaschutzes."

Um die Pariser Klimaziele zu erreichen, braucht es in Deutschland eine deutliche Verlagerung von Pkw-Fahrleistung auf Schiene, öffentliche Verkehrsmittel sowie Rad- und Fußverkehr. Nach den Vorstellungen des Thinktanks muss der Pkw-Verkehr bis 2050 um mehr als ein Drittel zurückgehen und der Fußverkehr im selben Zeitraum um mehr als ein Viertel zunehmen.

"Da sich Menschen und Fahrzeuge in der Regel den gleichen Straßenraum teilen, sind hier Richtungsentscheidungen gefragt: Vieles, was Fußverkehr fördert, bedeutet eine Zurücknahme der Dominanz des Autoverkehrs, sei es beim Parken oder der Geschwindigkeit innerorts", betont Mobilitätsexperte Aichinger. Ohne einen Paradigmenwechsel im Straßenverkehr würden sich nur schwerlich mehr Menschen für das Gehen begeistern lassen.

Dazu sollte aus Sicht der Agora-Experten das Leitbild der "Stadt der kurzen Wege" verbindlich werden. Ein eigenes Förderprogramm sollte dabei helfen, die autogerechten Stadträume, die viele deutsche Kommunen noch prägen, umzubauen. Dazu sollten auch Bundesstraßen gehören, die heute noch ganze Stadtviertel zerschneiden.

Klare Zuständigkeiten und eigenes Personal

Das Umweltbundesamt formuliert hier etwas vorsichtiger. Eine nationale Fußverkehrsstrategie müsste aus Sicht der Behörde verbindliche Ziele festlegen und dann Handlungsfelder und Maßnahmen des Bundes und der Länder aufzeigen. Dabei seien Themen wie Sicherheit, Barrierefreiheit und Aufenthaltsqualität von Bedeutung, um den Fußverkehr zu stärken, betont Dziekan.

"Eine ernst gemeinte, aktive Fußverkehrspolitik braucht eine institutionelle Verankerung, klare Zuständigkeiten und mehr personelle Ressourcen. Auf allen föderalen Ebenen muss die Zuständigkeit für den Fußverkehr klar geregelt sein", sagt die UBA-Expertin und hebt Städte wie Leipzig und Hamburg hervor, die über eigene Fußverkehrsbeauftragte verfügen.

Kurswechsel: So gelingt die Verkehrswende

Der Verkehr erreicht seine Klimaziele nicht – in fast 30 Jahren sind die CO2-Emissionen des Sektors um kaum ein Prozent gesunken. Die Verkehrswende braucht es aber auch, damit Städte mehr Lebensqualität gewinnen und die Belastungen durch Lärm und Schadstoffe sinken. Klimareporter° stärkt deshalb – in Kooperation mit dem Verkehrswendebüro des Wissenschaftszentrums Berlin – den Fokus auf Verkehrsthemen und berichtet in einer Serie über Hemmnisse bei der Verkehrswende und über Lösungen für eine nachhaltige, zukunftsfähige Mobilität.

Dziekan plädiert auch dafür, eine Fußverkehrsakademie zu gründen – analog und in Kombination mit der bestehenden Fahrradakademie. "Das wäre ein wichtiger Schritt, um Kommunen und Planer:innen durch Fortbildung, Schulung und Vernetzung zu unterstützen. Darüber hinaus könnte ein 'Bund-Länder-Arbeitskreis Fußverkehr' die Aktivitäten verschiedener Ressorts und Länder koordinieren."

Roland Stimpel vom FUSS e.V. würde natürlich gern die immer noch wörtlichen Formulierungen aus der Reichs-Straßenverkehrs-Ordnung von 1937 streichen. Wichtig ist ihm ein fußverkehrsgerechtes Fahrzeugtempo. "Das heißt innerorts Tempo 30 als Regel und Tempo 50 als Ausnahme. Gehwege verdienen besonderen rechtlichen Schutz, etwa durch hohe Bußgelder für Falschparker und Gehweg-Befahrer", betont er. Ziel müsse sein, dem Fußverkehr ein eigenes, in Fläche und Qualität hochwertiges, dichtes, sicheres und möglichst selten unterbrochenes Wegenetz zu schaffen.

Wie Dziekan geht es auch Stimpel um Know-how und Personal. "In Wissenschaft und Forschung kam Fußverkehr lange kaum vor", sagt er. "Es gibt bis heute keine Professur für diese wichtige, planerisch besonders anspruchsvolle Disziplin. Hier kann der Bund Forschung betreiben und fördern, etwa über die Bundesanstalt für Straßenwesen."

Mehr Platz für nachhaltigen Verkehr

Für Anke Borcherding vom Verkehrswendebüro des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) zeigt sich in der Coronakrise besonders deutlich, dass die Politik zwei Probleme zugleich lösen muss. "Die nachhaltigen Verkehrsmittel Fuß- und Radverkehr brauchen mehr Platz und der öffentliche Nahverkehr muss zur Modernisierung gezwungen werden", betont die Stadtverkehrsexpertin. "Sonst kann man die Verkehrswende endgültig vergessen."

Wie zu hören ist, scheint die Erarbeitung einer nationalen Strategie für den nachhaltigen Fußverkehr nun tatsächlich voranzukommen. Im kommenden Frühjahr soll sie vorliegen. Der Termin der nächsten Verkehrsministerkonferenz steht jedenfalls fest: Mitte April 2021. Kein halbes Jahr mehr Zeit. Da dürfte auch ein straffes Fußgängertempo ausreichen.

Anzeige