Einige Menschen fahren mit dem Fahrrad auf dem schmalden Weg zwischen zwischen Bundeskanzleramt und Spree entlang.
Im Berliner Regierungsviertel: Recht ist geronnene Politik, sagte der Verfassungsjurist Dieter Grimm. (Foto: Michael Bußmann/​Pixabay)

Der russische Überfall auf die Ukraine macht uns bewusst, an welchen enormen Ressourcenverbrauch wir uns gewöhnt haben. Wir haben ein Verkehrssystem geschaffen, das uns bequeme Zugänge zu allen möglichen Orten und Optionen verschafft – das aber dabei jeden Tag Millionen Liter fossiler Treibstoffe verbrennt.

Woher der Treibstoff kommt, machen wir uns in der Regel lieber nicht bewusst: dass damit Kriege finanziert und Kriege darum geführt werden, verdrängen wir zumeist recht einfach. Jetzt gerade ist mal wieder einer dieser Momente, an dem die Verdrängung nicht so gut funktioniert.

Es gibt daher keinen besseren Zeitpunkt, um über den dringend notwendigen Umbau unseres Verkehrssystems zu reden. Damit sich die Geschichte nicht ständig wiederholt und unsere Kinder und Kindeskinder mit ihrer Mobilität nicht immer neue Autokraten und Kriege finanzieren, müssen wir schnellstmöglich zu einer guten Mobilität mit viel weniger Autos kommen.

Der Umstieg auf batterieelektrische Fahrzeuge hilft uns nur bedingt – denn 48 Millionen Elektroautos erzeugen perspektivisch neue Ressourcenkonflikte, die den heutigen in nichts nachstehen würden. Wir müssen also einen Einstieg in ein gutes Leben mit weniger Fahrzeugen und weniger zurückgelegten Kilometern finden.

Wie eine solche Mobilität aussehen kann, ist schon vielfach beschrieben worden. Doch wie kommen wir da hin? Zunächst mal kann die Bundesregierung einige Hürden aus dem Weg räumen, die bisher einem entsprechenden Umbau im Weg stehen – insbesondere auf der Ebene der gesetzlichen Rahmenbedingungen, vor allem dem Straßenverkehrsgesetz und der Straßenverkehrsordnung (StVO).

Straßenverkehr wird als Naturereignis verstanden

Aus soziologischer Sicht sind Gesetze nichts anderes als geronnene Politik: Sie werden in einem bestimmten historischen Kontext beschlossen und gelten dann oft für viele Jahrzehnte, mitunter sogar Jahrhunderte. Sie spiegeln daher oftmals die politischen Ziele und gesellschaftlichen Machtkonstellationen vergangener Epochen wider.

 

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen im Verkehr stammen aus einer Zeit, in der die Massenmotorisierung als gesellschaftlich breit unterstütztes politisches Ziel galt. Dieses Ziel hat sich in die gesetzliche DNA des Verkehrs eingeschrieben.

Das Straßenverkehrsrecht ist deshalb bisher auf minimale Eingriffe in das Verkehrsgeschehen ausgerichtet. Zentrales Ziel ist die "Sicherheit und Ordnung des Verkehrs". Der Straßenverkehr wird dabei als Naturereignis verstanden, das lediglich durch möglichst sparsame Regeln und Eingriffe so gelenkt werden soll, dass kein Chaos entsteht und nicht zu viele Unfälle passieren.

Als Reaktion auf die massive Gefährdung von Leib und Leben, die von der Massenmotorisierung ausging, wurde als Ziel nicht etwa formuliert, den Autoverkehr zu reduzieren, sondern lediglich, diesen durch ein Regelwerk von Verhaltensnormen einzuhegen. Dies gilt im Wesentlichen bis heute.

In Paragraf 45 Absatz 9 der StVO steht zum Beispiel, dass Beschränkungen des fließenden Verkehrs nur dort angeordnet werden dürfen, wo nachweislich eine besondere Gefahrenlage besteht. Jede verkehrslenkende Maßnahme wird so als Eingriff in den "natürlichen Verkehrsfluss" interpretiert.

Was hingegen auf Bundesebene bisher nicht vorgesehen ist, ist eine gezielte Planung der Verkehrsentwicklung, zum Beispiel hin zu einem möglichst umwelt- und klimafreundlichen Verkehrssystem mit weniger Autoverkehr. So gibt es auf Bundesebene bisher keine Ziele für die zukünftige Entwicklung des Modal Split – also den angestrebten relativen Anteil der Verkehrsträger an den gefahrenen Kilometern.

Vorschlag für ein Bundesmobilitätsgesetz

Deshalb fordern Expert:innen sowie Umweltverbände und Verkehrsinitiativen schon seit geraumer Zeit eine grundlegende Reform des Straßenverkehrsrechts. Der ökologisch orientierte Verkehrsclub Deutschland (VCD) hat nun einen konkreten Vorschlag gemacht. Ein Bundesmobilitätsgesetz soll endlich klare Ziele für die Verkehrsentwicklung definieren: Sicherung der Mobilität für Personen und Waren, Verkehrsentwicklung im Einklang mit den Klimaschutzzielen, eine möglichst umweltfreundliche Abwicklung des Verkehrs, keine Verkehrstoten und weitere Ziele.

Porträtaufnahme von Lisa Ruhrort.
Foto: Michel Buchmann

Lisa Ruhrort

forscht am Wissenschafts­zentrum Berlin für Sozial­forschung (WZB) zu den gesellschaftlichen Voraus­setzungen für einen Wandel des Verkehrs­systems in Richtung Nachhaltigkeit. Sie leitet die Nachwuchs­forschungs­gruppe Move Me. Auf ihren täglichen Wegen durch Berlin findet sie in Rollern, Lasten­rädern und Carsharing-Autos interessantes Anschauungs­material für eine veränderte Mobilitäts­kultur.

Aus Sicht der Expert:innen würde diese neue gesetzliche Grundlage das Handeln von Verwaltungsakteuren und Politik im Verkehrsbereich deutlich beeinflussen. Vereinfacht gesagt: Statt jede Maßnahme nur mit der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs zu begründen, könnten die Handelnden sich zukünftig bei ihren Maßnahmen auf die Ziele des Bundesmobilitätsgesetzes berufen.

Zum Beispiel könnten sie eine Fahrradstraße einrichten, nicht nur, weil an der entsprechenden Stelle der Fahrradverkehr besonders gefährdet ist, sondern weil diese Maßnahme einen Beitrag zu einer gewünschten Verlagerung von Verkehr auf umweltfreundliche Verkehrsträger leistet.

Oder es ließe sich flächendeckend Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen anordnen – nicht nur, um vor Schulen und Kindergärten punktuell für mehr Sicherheit zu sorgen, sondern um das gesamte Verkehrssystem für Fahrradfahrende, Roller-Fahrende oder Fußgänger:innen sicherer und angenehmer zu machen.

Eine solche Anpassung würde einige der gröbsten Hindernisse für eine weniger autozentrierte Mobilitätsplanung aus dem Weg räumen. Vor allem Kommunen mit ambitionierten Zielen bekämen so deutlich mehr Handlungsspielräume, um eine Mobilitätswende zu befördern.

Das mag angesichts der Herausforderungen im Verkehr, besonders im Hinblick auf die Klimaziele, erst mal nur nach einem kleinen Schritt klingen. Tatsächlich ist es aber die Voraussetzung dafür, dass in Deutschland eine lange Tradition autoorientierter Planung überwunden werden kann.

Mobilität mit möglichst wenig Verkehr

Die "Bedürfnisse" der Autofahrenden bestimmen bisher die gesetzliche DNA des Verkehrs. Diese Logik muss umgedreht werden: Die gesetzlichen Rahmenbedingungen müssen auf das Ziel ausgerichtet sein, Mobilität mit möglichst wenig Verkehr und möglichst geringen Schäden für Mensch und Umwelt zu ermöglichen.

Die Bundesregierung hat die Möglichkeit, diese Weichenstellung vorzunehmen. Das historische Vorbild für eine gezielte Institutionalisierung verkehrlicher Zielvorstellungen durch die politische Gestaltung der Rahmenbedingungen bietet die Massenmotorisierung selbst: Diese wurde als gesellschaftspolitisches Großprojekt verstanden und mit umfassenden finanziellen, planerischen und eben auch gesetzlichen Weichenstellungen ermöglicht.

Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem

Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Die meisten Beiträge erscheinen zugleich im WZB-Blog der Forschungs­gruppe Digitale Mobilität.

Genauso viel politischen Willen erfordert nun die schrittweise Umsetzung eines neuartigen Mobilitätssystems, in dem nicht mehr der private Pkw im Zentrum steht. Straßen müssen dafür umgebaut und Nutzungsregeln neu verteilt werden. Finanzielle Mittel, etwa aus der Bundesverkehrswegeplanung, müssen gezielt für einen klima- und menschenfreundlichen Verkehr eingesetzt werden. All dies wird deutlich leichter, wenn auch die zugrundeliegenden gesetzlichen Regeln verändert werden.

Der Gesetzentwurf des VCD enthält noch viele weitere Vorschläge für einen Umbau der Verkehrspolitik. Im Kern geht es aber darum, an der Wurzel des Problems anzusetzen: nämlich die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu verändern, mit deren Hilfe das private Automobil historisch institutionalisiert wurde. Als "geronnene Politik" können diese Regeln auch wieder infrage gestellt und neu politisch verhandelt werden.

Es gilt, die rechtliche DNA des Verkehrs zu verändern, die bisher dazu beiträgt, dass sich der Status quo beständig reproduziert. Selten war die Dringlichkeit eines solchen Umbaus so offensichtlich wie heute.

 

Anzeige