Oliver Hummel. (Bild: Naturstrom AG)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Oliver Hummel, Vorstand beim Öko-Energieversorger Naturstrom.

Klimareporter°: Herr Hummel, die EU-Kommission legte diese Woche ein neues Klimaziel vor und empfiehlt 90 Prozent CO2-Reduktion bis 2040. Dabei setzt sie stark auf CO2-Entnahme-Technologien und nicht so sehr auf Emissions-Vermeidung. Auch nach 2050 sollen fossile Brennstoffe noch eine Rolle spielen. Für wie ehrgeizig halten Sie das Ziel?

Oliver Hummel: Das Ziel ist, gemessen an den Transformations-Herausforderungen, durchaus ehrgeizig. Schließlich wollen wir in Europa unseren Treibhausgasausstoß bis 2030 erst um 55 Prozent reduziert haben. Die weiteren 35 Prozent müssen wir dann in nur zehn Jahren schaffen.

Das ist nicht ohne, aber wenn passende Marktdynamiken einsetzen, ist es durchaus erreichbar. Auch wenn hier also schon eine große Herausforderung wartet, muss man gleichzeitig konstatieren, dass die angestrebte 90-Prozent-Marke aus Klimaschutzsicht gerade so das Mindestmaß erfüllt.

Dieses Dilemma – einerseits werden durchaus tiefgreifende Umwälzungen angeschoben, andererseits ist das alles mit Blick auf die immer stärker wirkende Klimakrise dennoch zu wenig, zu langsam, zu verzagt – ist an sehr vielen Stellen zu beobachten, auch in der deutschen Klimapolitik.

Leider hat sich die Menschheit viel zu lange vor den Erfordernissen von echtem Klimaschutz weggeduckt. Immerhin setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass ein wirkliches Umsteuern nötig ist, und das ist gut so.

Zweifel am Erkenntnisfortschritt kommen mir allerdings beim Blick auf die in der EU-Strategie genannten Maßnahmen. Mit CO2-Abscheidung auch im Energiesektor pflegt man die Wurzel des Übels, während man die Auswüchse bekämpfen will.

Das ist kontraproduktiv und nicht der klare Marktrahmen, der für eine exponentielle Entwicklung von Dekarbonisierungstechnologien gebraucht würde. Ganz zu schweigen davon, dass die weitere Nutzung fossiler Energien plus CO2-Abscheidung sehr teuer wäre.

Insgesamt mögen für Klimaneutralität auch CCS und CCU notwendig sein, aber nicht im Energiesektor, dort gibt es längst ausreichend entwickelte und günstige Alternativen.

Die Ampel-Koalition einigte sich diese Woche auf die Kraftwerksstrategie. Die ursprünglich geplanten knapp 24.000 Megawatt neue Gaskraftwerke sollen durch 10.000 Megawatt "H2‑ready"-Anlagen sowie einen Kapazitätsmarkt ersetzt werden. Fachleute und Verbände kritisieren das Festhalten an fossilem Erdgas, andererseits könnten die Erneuerbaren vom Kapazitätsmarkt profitieren. Hat die Strategie Auswirkungen auf Ihre Planungen bei Naturstrom?

Wie schon beim EU-Klimaziel sehe ich auch bei der Kraftwerksstrategie die starke Öffnung für CCS im Energiesektor sehr kritisch. Dass auch Kernfusion als Schlagwort mit ins Spiel gebracht wird, hat wohl mehr mit Koalitionspsychologie als mit realen Energiewirtschafts-Optionen zu tun.

Davon abgesehen ist die jetzige, noch sehr grobe Ankündigung der Kraftwerksstrategie schon eine Verbesserung gegenüber früheren Zwischenständen.

Allein in Kraftwerksleistungen zu denken, hilft meines Erachtens jedoch wenig. Ein Residualsystem zur Einspeisung von Wind- und Solarenergie, die ja die Hauptträger unserer Energieversorgung sein werden, braucht vor allem Flexibilität.

Insofern ist es richtig, dass gegenüber den bisherigen Plänen die reinen Kraftwerksausschreibungen zunächst deutlich reduziert wurden und darauf aufsetzend ein für vielfältige Lösungen offener Kapazitätsmechanismus die Versorgung absichern soll.

Konkrete Auswirkungen für unsere Planungen hatte die Bekanntgabe von dieser Woche nicht, aber wir werden uns die endgültigen Regelungen sicher genau anschauen und in den kommenden Jahren verstärkt Flexibilitätselemente rund um unser Erneuerbaren-Portfolio voranbringen – von dynamischen Tarifen über Batteriespeicher bis hin zu Kombikraftwerken.

Der Ausbau der Erneuerbaren in Deutschland droht dieses Jahr auch dadurch ausgebremst zu werden, dass im Bundeshaushalt einige Milliarden für die EEG-Förderung fehlen könnten. Auch für kommende Jahre rechnen Fachleute mit einem enormen Förderbedarf angesichts der hohen Ausbauziele. Woher sollen die Mittel dafür kommen?

Der ganz überwiegende Teil dieser Förderung geht in Anlagen, die schon jahrelang am Netz sind und die einen Rechtsanspruch darauf haben. Zudem ist die Erneuerbaren-Einspeisung ein entscheidender Treiber dafür, dass die Strompreise im Großhandel inzwischen wieder massiv gesunken sind, was den Kunden und damit allen Bürgern zugutekommt.

Durch diesen Preisrückgang erhöht sich leider gleichzeitig der staatliche Förderbedarf. Gerade Neuanlagen fallen bei der Förderung aber deutlich weniger ins Gewicht. Gleichzeitig senken sie den Strompreis weiter, hier ergibt sich also ein klarer positiver volkswirtschaftlicher Effekt.

Nicht nur aus Klimaschutzsicht muss daher das EEG-Förderregime im geplanten Rahmen weitergeführt werden. Für den erhöhten Refinanzierungsbedarf halte ich drei Maßnahmen für notwendig.

Erstens sollte für eine steuernde Wirkung der CO2-Preis weiter erhöht werden. Dies müsste aber unbedingt über ein Klimageld sozial flankiert werden, sodass sich in der Summe daraus wahrscheinlich kaum zusätzliche Einnahmen für den Staat ergeben werden.

Zweitens wird der Staat auch die Flexibilität des Energiesystems zumindest in den ersten Jahren stärker anreizen müssen, also zum Beispiel den Bau von Speichern. Das kostet zwar zusätzliches Geld, aber wenn dies nicht geschieht, besteht die Gefahr, dass die Mehrkosten des EEG-Kontos durch die zunehmende "Selbstentwertung" des Solar- und Windstroms in erhebliche Höhen steigen werden.

Drittens wird die anstehende Transformation nicht ohne neue Staatsschulden gelingen. Schon die jetzigen Kürzungen, um die Schuldenbremse einzuhalten, betreffen zum Beispiel auch die Batterieforschung und die Energieeffizienz – zwei zentrale Zukunftsthemen, die auch enorme wirtschaftliche Chancen bieten.

Wir haben als Gesellschaft in den letzten 30 Jahren viel zu wenig in die Zukunft investiert und dabei riesige Infrastrukturschulden angehäuft. Also das, was man eigentlich hätte investieren müssen, um den Stand der Infrastruktur langfristig mindestens auf dem gleichen Level zu halten. Von zusätzlichen Investitionen für die Folgen des Klimawandels ganz zu schweigen.

Anders als Schulden in Euro taucht so etwas leider in keinem Bundeshaushalt auf und erst jetzt beginnt die Regierung die Investitionsverpflichtungen einmal zusammenzuaddieren. Dass das die Vorgängerregierungen wissentlich schön vor sich hergeschoben haben, ist ein Skandal.

Wir stehen nun vor einem riesigen, relativ kurzfristig nötigen Kapitalbedarf. Das betrifft ja nicht nur die Energiewende, sondern auch das Mobilitätssystem, unsere Bildung, die Staatsverwaltung und, und, und. Das wird nicht zu bewältigen sein, ohne dass der Staat notwendige Modernisierungsmaßnahmen massiv mit anschiebt. Dafür braucht es eine Reform der Schuldenbremse.

 

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Leider mehrfach negativ überrascht hat mich das europapolitische Handeln der FDP mit der Weigerung, dem Lieferkettengesetz und den Lkw-Flottengrenzwerten zuzustimmen – wohlgemerkt auf den allerletzten Drücker und nachdem die nationalen Regierungen Verhandlungskompromisse bereits vereinbart hatten.

Natürlich hat die FDP das Recht auf eine eigene Perspektive. Teilweise kann ich Kritikpunkte auch nachvollziehen. Aber Änderungswünsche müssen eben im Verfahren verhandelt werden, nicht erst nach einer allgemeinen Kompromissfindung.

Unabhängig von den Inhalten beschädigt dieses Verhalten allgemein das europäische Standing Deutschlands, und das finde ich bedauerlich.

Fragen: Jörg Staude