In Den Haag endet diese Woche die wohl größte Gerichtsanhörung der Geschichte. Knapp 100 Länder und zwölf übernationale Organisationen, darunter die Europäische Union und die Organisation erdölexportierender Länder Opec, traten vor den Internationalen Gerichtshof.
Die Wucht des Klimawandels treffe ihr Land unverhältnismäßig hart, erklärte Nepals Außenministerin Arzu Rana Deuba zu Beginn der zweiten Anhörungswoche. "Wir werden für Fehler bestraft, die wir nicht gemacht haben, für Verbrechen, die wir nicht begangen haben."
Deuba hob auch die besonderen Herausforderungen für Gebirgsnationen hervor. Dort würden Gletscher schmelzen, Gletscherseen ausbrechen und Stürme und Erdrutsche Ernten und ganze Dörfer vernichten.
Zahlreiche kleine Inselstaaten betonten die Gefahren des steigenden Meeresspiegels. Sandrina Thondoo forderte im Namen der Cookinseln den Gerichtshof auf, sich mit Kolonialismus, Sexismus und Rassismus auseinanderzusetzen.
Dass indigene Völker und Frauen am stärksten unter dem Klimawandel leiden würden, während Staaten mit überwiegend weißer Bevölkerung am meisten dazu beigetragen hätten, sei kein Zufall.
Kleine Inselstaaten und afrikanische Länder beklagten die Überschuldung. Einige Länder seien, so Sierra Leones Justizminister Mohamed Lamin Tarawalley, zu einer Zusammenarbeit mit klima- und umweltschädliche Industrien gezwungen, um ihren Schuldendienst erfüllen zu können.
In einer Videonachricht sprach auch der Premierminister Grenadas, Dickon Mitchell, über den Teufelskreis aus Schulden und Klimaschäden. Um seine durch Klimawandelfolgen zerstörte Infrastruktur wieder aufzubauen, müsse Grenada Kredite zu marktüblichen Konditionen leihen, nur um nach dem nächsten Hurrikan wieder von vorne anzufangen.
Eine neue Grundlage für nationale Klimaverfahren
Grundsätzlich sollen sich die obersten Richter:innen unter anderem auf Grundlage dieser Statements mit zwei Fragen beschäftigen: Welche völkerrechtliche Verpflichtung zu Klimaschutz haben Staaten? Und: Welche Rechtsfolgen ergeben sich für Staaten, die durch ihre Handlungen und Unterlassungen dem Klimasystem und der Umwelt erheblichen Schaden zufügen?
Zuvor hatten sich die Mitglieder des Gerichts bereits mit gegenwärtigen und früheren Autor:innen des Weltklimarates IPCC getroffen.
Seinen Anfang nahm das Verfahren 2019, als eine Gruppe von Jura-Student:innen aus Fidschi die Regierungen kleiner Inselstaaten aufforderte, vor den Internationalen Gerichtshof zu ziehen. Zuerst folgte Vanuatu dem Aufruf und schließlich eine ganze Reihe von Ländern, die eine entsprechende Resolution in die UN-Generalversammlung einbrachten.
Ein paar Bürokratiehürden später reichte im April 2023 UN-Generalsekretär António Guterres die Anfrage nach einem Rechtsgutachten an den Gerichtshof weiter.
Die Stellungnahme des Gerichts – erwartet wird sie im Laufe des kommenden Jahres – ist rechtlich nicht bindend. Sie habe dennoch große rechtliche wie moralische Autorität, sagt Margaretha Wewerinke-Singh, federführende Rechtsberaterin Vanuatus und weiterer pazifischer Inselstaaten, im Gespräch mit Klimareporter°.
Die Stellungnahme des Gerichts könne eine neue rechtliche Grundlage für zukünftige Verhandlungen zu Klimaschutz, Anpassung und Klimafinanzierung schaffen.
Außerdem laufen derzeit weltweit über 2.000 Klimaverfahren gegen Staaten und Unternehmen. Nationale und regionale Gerichte könnten sich in ihren Entscheidungen auf die Stellungnahme des Internationalen Gerichtshofs berufen.
Wewerinke-Singh: "In der Vergangenheit haben derartige Stellungnahmen eine entscheidende Rolle bei der Klärung komplexer Rechtsfragen gespielt und sowohl das Verhalten von Staaten als auch die Arbeit anderer internationaler Gremien beeinflusst."
Allerdings sprachen sich nicht alle Staaten in der Anhörung für eine rechtliche Nachschärfung aus. Die USA argumentierten etwa, dass sich aus dem Pariser Klimaabkommen keine fairen Anteile am globalen CO2-Budget ableiten ließen.
Die Rechtsberaterin der Vereinigten Staaten Margaret Taylor widersprach der Auffassung, dass eine gesunde Umwelt als Gewohnheitsrecht gelte. Somit ließen sich auch keine darauf basierenden Rechtspflichten ableiten.
Grenzüberschreitende Schäden zu verhindern, sei nach dem Gewohnheitsrecht auch nur dann verpflichtend, so Taylor, wenn der Schaden auf konkret identifizierbare Quellen zurückgeführt werden kann. Das sei beim Klimawandel nicht der Fall.
Die Verpflichtung sei auch davon abhängig, dass sich Staaten des Schadens und des Risikos bewusst seien. Taylor argumentierte damit gegen die historische Bewertung der nationalen Verantwortung. "Was zählt, ist, dass Staaten dieses Bewusstsein heute haben", fügte sie hinzu.
"Die Abkehr von fossilen Brennstoffen ist keine rechtliche Pflicht"
Auch die Ländergruppe der nordeuropäischen Staaten sowie Russland wiederholten, dass es keine rechtliche Einigung darüber gebe, was einen fairen Klimaschutz-Anteil darstellen würde.
Russland fügte noch an, dass die Abkehr von fossilen Brennstoffen keine Rechtspflicht sei, sondern lediglich ein "politischer Appell". Das Paris-Abkommen würde weder die Nutzung bestimmter Energieträger verbieten noch die Nutzung anderer vorschreiben.
Es sei durchaus ein Problem, dass das Pariser Klimaabkommen auf Freiwilligkeit beruht, erklärte auch Margaretha Wewerinke-Singh. Aber das Völkerrecht beginne nicht bei dem Klimaabkommen und ende auch nicht damit.
Mit in die Entscheidung des Gerichts müsse auch die Charta der Vereinten Nationen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen und vieles mehr fließen.
Nachdem der Ausgang der letzten Weltklimakonferenz für die ärmsten Länder eine herbe Enttäuschung war, hoffen nun viele auf den Gerichtshof. "Frustration ist der Grund, warum wir diesen Weg einschlagen", erläuterte der Klimasondergesandte von Vanuatu, Ralph Regenvanu.
Erst diesen Mai hatte der Internationale Seegerichtshof in Hamburg auf Anfrage der kleinen Inselstaaten ein Rechtsgutachten veröffentlicht. Demnach verpflichtet das Seerecht Länder zum Schutz der Meeresumwelt und damit auch dazu, eine Verschlechterung der Meere durch die Auswirkungen der Treibhausgasemissionen und des Klimawandels zu bekämpfen.
Für Europa ist besonders das im April ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu beachten. Das Gericht hatte festgestellt, dass die Schweiz durch das Verfehlen ihrer Emissionsziele die Menschenrechte ihrer Bürger:innen verletzt hat.
Expert:innen hoffen, dass alle diese Urteile im Vorfeld des nächsten Klimagipfels in Brasilien ihre Wirkung entfalten. In einem Jahr sollen dort die aktualisierten nationalen Klimaschutzpläne, die sogenannten NDCs, ausgewertet werden.
Gegenwärtig steuert die Welt laut einem Bericht des UN-Umweltprogramms Unep auf 2,6 bis 3,1 Grad Erwärmung zu. Es ist also bei den NDCs ein ordentlicher Schritt nach vorne nötig, um das 1,5-Grad- oder auch das Zwei-Grad-Ziel zumindest auf dem Papier in Reichweite zu halten.
Auch ein Rechtsgutachten aus Den Haag im Sinne des Klimaschutzes wäre allerdings keine Garantie für mehr Klimaanstrengungen. Denn trotz der Bedeutung des Internationalen Gerichtshofes wurden in der Vergangenheit immer wieder Rechtsprechungen – etwa von den USA, Russland und China – missachtet.