In Indien, dem seit Kurzem bevölkerungsreichsten Land der Erde, leben die meisten Menschen auf dem Land und dort sehr klimafreundlich. (Bild: Yavuz Sarıyıldız/​Shutterstock)

Die reichen Industriestaaten, die die Erdatmosphäre seit über 150 Jahren mit Treibhausgasen aufheizen, müssen die Entwicklungsländer beim Klimaschutz unterstützen. Das steht außer Frage. Bereits 2009 versprachen sie auf dem UN-Klimagipfel in Kopenhagen, dafür 100 Milliarden US-Dollar jährlich aufzubringen.

Auf der Vorbereitungskonferenz zum diesjährigen Gipfel in Dubai, die gerade in Bonn stattfindet, spielt das Thema erneut eine wichtige Rolle.

Doch offenbar erfüllen die reichen Länder ihre Zusage nicht. Die Hilfsorganisation Oxfam jedenfalls wirft ihnen in einem Report vor, zuletzt tatsächlich höchstens ein Viertel der Summe aufgebracht zu haben.

Der Oxfam-Bericht analysiert für das Jahr 2020 die Zahlungen der Geberländer. Diese hatten selbst angegeben, 83,3 Milliarden Dollar aufgebracht zu haben. Die Kritik daran ist nicht neu: Ein großer Teil dieser Summe stamme aus bereits existierenden Entwicklungshilfe-Etats, wobei oft nur ein geringer Klimaschutz-Nutzen erkennbar sei.

Außerdem handle es sich vielfach nur um Kredite, keine echten Zuschüsse. Weiter kritisiert Oxfam, dass die 100-Milliarden-Zusage nicht an die sich verschärfenden Klimaveränderungen vor Ort angepasst wurde und deshalb zu niedrig sei.

Zudem müsse der beim letztjährigen Klimagipfel in Ägypten vereinbarte neue Fonds, der besonders betroffene Staaten für Schäden und Verluste bei klimabedingten Katastrophen ("Loss and Damage") entschädigen soll, rasch mit Geldmitteln aufgefüllt und eingesetzt werden.

Sieben Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts

In der Fachwelt ist klar: Die 100 Milliarden reichen bei Weitem nicht aus, um in den Entwicklungsländern den Übergang zu klimafreundlichen Energiesystemen und die Anpassung an den Klimawandel zu finanzieren. Wie viel Geld tatsächlich nötig wäre, um globale Klimagerechtigkeit herzustellen und gleichzeitig sicherzustellen, dass das 1,5‑Grad-Limit aus dem Pariser Klimavertrag noch gehalten wird, haben nun zwei britische Forscher berechnet.

Länder wie Deutschland wollen sich in wenigen Jahrzehnten dekarbonisieren, vor allem mit technischen Mitteln. (Bild: Markus Mainka/​Shutterstock)

Die Industriestaaten müssten danach bis 2050 insgesamt rund 170 Billionen Dollar an Entschädigungszahlungen an arme Länder leisten, um ihre historische "CO2-Schuld" abzutragen. Das wären pro Jahr knapp sechs Billionen Dollar – also 6.000 Milliarden – oder etwa sieben Prozent des jährlichen weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Autoren der Studie sind die britischen Ökonomen Andrew Fanning von der Universität Leeds und Jason Hickel von der London School auf Economics, erschienen ist sie in Nature Sustainability.

Die beiden Forscher gingen bei ihrer Berechnung von dem globalen "CO2-Budget" aus, das laut Weltklimarat IPCC bei Einhaltung des 1,5‑Grad-Ziels noch emittiert werden darf. Das sind 1,8 Billionen Tonnen CO2. Sie ermittelten für 168 Länder weltweit den "fairen Anteil" daran, basierend auf der jeweiligen Bevölkerungszahl.

Sodann verglichen Fanning und Hickel diese Menge mit den CO2-Frachten, die das jeweilige Land seit 1960 freigesetzt hat, und kalkulierten für alle Staaten die weiteren Emissionen, wenn diese bis 2050 auf "netto null" herunterfahren werden.

Globaler Norden hat fairen Anteil schon überzogen

Es zeigt sich, dass vor allem die Industrienationen des globalen Nordens ihre gerechte Zuteilung an Emissionen bereits deutlich überschritten haben, im Schnitt um das Dreifache. Mit anderen Worten: Sie eigneten sich die anderen Ländern zustehenden Anteile an.

Die USA zum Beispiel haben bereits mehr als das Vierfache ihres fairen Anteils verbraucht. Das Mutterland der Industrialisierung, Großbritannien, ist mit dem 2,5-Fachen dabei, Deutschland mit dem Doppelten. Anders sieht es bei den Entwicklungsländern aus. Indien zum Beispiel hat nur knapp ein Viertel seines fairen Anteils genutzt.

Balkendiagramme: Die USA, Deutschland, Russland, Großbritannien und Japan müssten jeweils mehrere Tausend Dollar pro Kopf und Jahr an Länder wie Indien zahlen.
Unter den fünf größten Zuviel-Emittenten ist auch Deutschland. (Bild: Andrew Fanning/​University of Leeds, Daten aus der Studie)

Anhand der CO2-Preise gemäß den Klimaschutz-Szenarien des IPCC berechneten Fanning und Hickel einen Geldwert für die überschüssigen Emissionen all jener 67 Länder, die ihr Klimakonto überzogen haben. Sie kamen auf eine Gesamtsumme von 192 Billionen Dollar, wobei 170 Billionen oder 89 Prozent auf den globalen Norden entfallen und der Rest auf die Länder mit hohen Emissionen im globalen Süden, vor allem Ölstaaten wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate.

Den größten Schuldenposten haben mit 80 Billionen die USA angehäuft. An zweiter Stelle steht die EU plus Großbritannien mit 46 Billionen.

Das Geld ordneten die Ökonomen als Entschädigung den 101 ärmeren Ländern zu, die ihr Budget noch nicht ausgeschöpft haben und es künftig auch nicht mehr ausschöpfen können, da sonst das 1,5‑Grad-Limit gerissen würde. Entschädigungsberechtigt wären zum Beispiel Indien (57 Billionen Dollar), die afrikanischen Länder südlich der Sahara (45 Billionen) und China (15 Billionen).

"Eine Frage der Klimagerechtigkeit"

Um es konkreter zu machen: Die Industrieländer müssten im Schnitt bis 2050 rund 2.700 Dollar pro Kopf und Jahr für die Entschädigungen aufbringen, wobei es in den USA 7.200 und in Deutschland 4.800 wären.

 

Die Empfängerländer im globalen Süden würden 940 Dollar pro Kopf und Jahr erhalten, wobei die Spanne ebenfalls groß wäre. Bei Indien wären es 1.160 Dollar, bei China, dessen Emissionen seit 2000 stark angestiegen sind, nur 280 Dollar.

Fanning nannte es "eine Frage der Klimagerechtigkeit, dass die Länder, von denen wir eine rasche Dekarbonisierung ihrer Wirtschaft verlangen, obwohl sie keine Verantwortung für die übermäßigen Emissionen tragen, für diese ungerechte Belastung entschädigt werden sollten".

Die beiden Autoren halten es für angezeigt, für die konkrete Abwicklung den sogenannten Warschau-Mechanismus zu nutzen. Dieser wurde bereits auf dem Klimagipfel 2013 in Warschau eingerichtet, um die Debatte über das "Loss and Damage"-Problem voranzubringen. Die konkrete Höhe der Entschädigungen solle dabei jährlich neu berechnet werden, je nachdem, wie sich der CO2-Ausstoß international entwickelt.

Wie realistisch es ist, dass die reichen Länder die errechneten gewaltigen Summen aufbringen, wenn sie bisher nicht einmal die versprochenen 100 Milliarden jährlich zusammenbekommen, steht auf einem anderen Blatt. Trotzdem dürfte die Untersuchung der beiden Ökonomen die Debatte befeuern. Und vielleicht dazu beitragen, dass die 100 Milliarden endlich in Sicht kommen.