Klimareporter: Staaten, die nicht genug für den Klimaschutz tun, verstoßen gegen Menschenrechte, das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in dieser Woche festgestellt. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Trotzdem eine bahnbrechende Entscheidung, Herr Ott?
Herrmann Ott: Absolut. Nicht nur hat der Gerichtshof als erstes internationales Gericht eine klimarechtliche Entscheidung getroffen – sie ist auch noch sehr gut und wegweisend.
Die Zeit reicht hier nicht aus, um alle positiven Aspekte aufzuzählen, deshalb nur drei: Erstens, das Gericht hat eine klare Verantwortung der Staaten festgestellt, die Bürgerinnen und Bürger vor den Folgen des Klimawandels zu schützen.
Zweitens stellt es unmissverständlich klar, dass die Gerichte der Nationalstaaten bei jeder Klimaklage sorgfältig prüfen müssen, ob die Rechte von Klägerinnen und Klägern verletzt sind – das hatten die Schweizer Gerichte nicht getan.
Und drittens hat der Gerichtshof die Rechte von zivilgesellschaftlichen Verbänden gestärkt, also von Nichtregierungsorganisationen. Diese können demnach die Rechte individueller Geschädigter geltend machen.
Der Gerichtshof hat der Schweizer Regierung allerdings keine konkreten Vorgaben gemacht, etwa dazu, wie schnell der Treibhausgas-Ausstoß zu sinken hat. Ein großes Manko, oder?
Nein, das wäre des Guten zu viel gewesen. Der Gerichtshof hat sehr klar aufgezeigt, welche Schritte die Staaten respektive die Regierungen unternehmen müssen, um der Pflicht zum Klimaschutz zu genügen. Dazu gehören eine wissenschaftliche Analyse sowie die Aufstellung konkreter Pläne.
Konkret fehlte in der Schweiz zum Beispiel die Aufstellung eines Emissionsbudgets, das zeigt, wie viele Treibhausgase in den kommenden Jahren noch ausgestoßen werden dürfen. Der Gerichtshof verlangt also von den Staaten eine sorgfältige Befassung mit dem Problem des Klimawandels.
Die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei, die stärkste Partei im Nationalrat, hat das Urteil als Skandal bezeichnet und den Austritt des Landes aus dem Europarat gefordert. Die SVP argumentiert, Richter dürften keine Politik machen.
Das ist purer Populismus – wie soeben ausgeführt, hat das Gericht der "Politik" ja gerade keine Vorgaben gemacht, sondern sich klug darauf beschränkt, recht genaue Leitplanken für die Entscheidungsfindung vorzugeben.
Die Menschenrechte setzen den Rahmen für politische Gestaltung. Alle Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, dass der Staat sie vor den Gefahren des Klimawandels schützt. Das könnte sich, wenn in den nächsten Jahren die Klimafolgen spürbarer werden, sogar zu viel konkreteren Handlungspflichten verdichten – darauf hat auch das Bundesverfassungsgericht schon aufmerksam gemacht.
Wie groß sind die Chancen generell, Politiker juristisch zu Klimaschutz-Maßnahmen zu zwingen? Wie sind die Erfahrungen weltweit?
Hermann Ott
leitete bis vor Kurzem das deutsche Büro der internationalen Umweltrechtsorganisation Client Earth in Berlin, das er aufgebaut hat, und ist jetzt selbstständiger Berater, zudem Honorarprofessor an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde bei Berlin. Der promovierte Jurist forschte lange am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie und war vier Jahre Bundestagsabgeordneter der Grünen.
In vielen Staaten der Erde sind Regierungen von Gerichten dazu verurteilt worden, bessere Maßnahmen zum Klimaschutz zu ergreifen. Für viele Menschen drängt sich der Eindruck auf, die Justiz würde besser auf die Gefahr der Klimakrise reagieren als die Politik. Aber man sollte sich nicht täuschen: Gerichte können punktuell Regierungen anschubsen, aber die eigentliche Lösung muss aus der Politik kommen.
Und dazu braucht es Druck aus der Gesellschaft. Und natürlich muss man Parteien wählen, die wirklich etwas für den Klimaschutz tun.
Was verspricht mehr Erfolg: Staaten oder Unternehmen zur Einhaltung der von ihnen beschlossenen oder für sie geltenden Ziele zu zwingen?
Tatsächlich sehe ich die Hauptaufgabe in den nächsten Jahren darin, Unternehmen zur Einhaltung von Klima- und Umweltschutz zu zwingen. Viele in der Wirtschaft handeln verantwortungslos – und beeinflussen dann auch noch die Politik in ihrem Sinne. Werden Konzerne durch Gerichte zum Klimaschutz verpflichtet, ändert sich das: Sie werden darauf hinarbeiten, dass andere Unternehmen dies ebenfalls tun müssen.
Auch in der Bundesrepublik ist die Regierung wegen mangelhafter Klimapolitik gerügt worden – und zwar vom Bundesverfassungsgericht in seinem spektakulären Urteil von 2021. Trotzdem entspricht die Klimapolitik auch heute, drei Jahre später, nach Ansicht von Klimafachleuten immer noch nicht dem 1,5‑Grad-Pfad, den Deutschland im Pariser Klimavertrag mitbeschlossen hat. Also ein zahnloses Urteil?
Es ist tatsächlich skandalös, wie die Bundesregierung mit dem Beschluss des Verfassungsgerichts umgeht. Namentlich eine bestimmte Partei, die nur das falsch verstandene "Wohl der Wirtschaft" im Sinn hat.
Aber die anderen beiden Parteien lassen sich am Nasenring herumführen, deshalb sind auch sie verantwortlich. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat letztens klar geurteilt: Die Klimapolitik der Ampelkoalition ist unzureichend.
Herr Ott, Sie haben den deutschen Ableger der Umweltrechts-Organisation Client Earth in den letzten fünf Jahren aufgebaut. Wie offen sind die hiesigen Gerichte für den Klimaschutz?
Die Bilanz der deutschen Gerichte ist gemischt. Die unteren Gerichte tun sich schwer, den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu konkretisieren.
Dem könnte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit seiner großen Entscheidung jetzt einen ordentlichen Schub verpassen: Alle staatlichen Einrichtungen – Gesetzgebung, Regierung und Justiz – sind verpflichtet, die Menschen vor dem Klimawandel zu schützen. Unsere Gerichte werden genauer hinschauen müssen, sonst landen ihre Urteile auch in Straßburg.