Sorry, schon zum dritten Mal in Folge müssen wir uns heute mit anderen Medien befassen – diesmal mit dem eigentlich sehr geschätzten öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Dort gab es vor acht Wochen Humbug zum neuesten IPCC-Report – und in der Folge eine halbseidene Verteidigung und nun am Ende etwas, das wir Rabulistik nennen würden. Aber der Reihe nach.
Am 9. August legte das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) den ersten Band seines Sechsten Sachstandsberichts (AR6) zur Klimaforschung vor. Es gibt keinen verlässlicheren Überblick über den Stand des Wissens zum Klimawandel, weshalb dieser Report des sogenannten Weltklimarats weltweit Schlagzeilen machte. Auch in Deutschland berichteten die Medien, darunter natürlich die ZDF-Nachrichten.
Wie es im Fernsehen oft üblich ist zum Erklären komplexer Materie, holte man dabei einen hausinternen Experten vor die Kamera – in diesem Falle den Chef der ZDF-Umweltredaktion, Volker Angres.
Der 65-Jährige leitet die Redaktion seit 1990, also seit bereits 31 Jahren. Doch was Angres zum IPCC-Report sagte, war alles andere als kompetent. Zum Ende des knapp dreiminütigen Studiogesprächs (siehe Ausriss oben) fragte ihn die Moderatorin: "Was muss, was kann Europa jetzt tun?"
Angres hätte die knappe Sendezeit nutzen können, um darüber zu reden, was in der Fachwelt Konsens ist: dass Europa seine Emissionen schnellstens auf null bringen muss, dass das Ende der fossilen Energieversorgung und der Umstieg auf Erneuerbare drastisch beschleunigt gehören, dass es etwa im Verkehrssektor in den vergangenen Jahrzehnten kaum Fortschritte gab, dass auch Gebäudesektor, Landwirtschaft oder die gesamte Industrie ihren Ausstoß an Treibhausgasen in den nächsten 20 Jahren rasant runterfahren müssen.
"Man nehme ein modernes, deutsches Kohlekraftwerk"
Angres hätte sagen können, dass die Klimaziele in Brüssel oder Berlin zwar in die richtige Richtung gehen, aber nicht ausreichen – vor allem aber bisher die politischen Maßnahmen fehlen, um diese Ziele auch nur annähernd erreichen zu können. Und, und, und.
Was aber sagt Angres? Er lenkt ab redet stattdessen über die nächste UN-Klimakonferenz, für die der Report "ein Weckruf" sei (was nicht verkehrt ist, aber nichts mit der Frage zu tun hat). Europa müsse dort "eine Führungsrolle übernehmen" (was auch stimmt). Doch was versteht Angres unter "Führungsrolle"? Hier der O-Ton ab Minute 2:20 des Gesprächs:
"Man nehme ein modernes, deutsches Kohlekraftwerk, baue es in Indien oder in Afrika. In Südafrika könnte man locker drei bis vier alte Kraftwerke dort stilllegen, die deutschen sind so gut, mit guten Wirkungsgraden. Das würde Klimaschutz großskalig voranbringen. Und genau das fordert der Weltklimarat."
Was? Neue Kohlekraftwerke sind das Erste, was dem obersten Umweltjournalisten des ZDF als europäische Klimaschutzmaßnahme einfällt? Und die einzige überhaupt, die er hier vor riesigem Publikum nennt?
Hierbei handelt es sich nicht um einen kurzzeitigen Aussetzer, offenbar meint Angres das wirklich. In einer anderen Schalte, nämlich in einer anderen ZDF-heute-Sendung (siehe Ausriss), wiederholt er sein Plädoyer für Kohlekraftwerksexporte noch mal.
Das Schräge ist: Nichts dergleichen steht im IPCC-Report, über den Angres doch eigentlich informieren soll.
Der Auftritt wird denn auch sofort kritisiert, unter anderem von der Initiative Parents for Future auf Twitter. Zahlreiche Programmbeschwerden erreichen den Sender. Auch eine Anfrage des Klima-Lügendetektors an die ZDF-Pressestelle, was denn Angres' Quellen für seine Kohleempfehlung sind, wird als solche gewertet und ins offizielle Verfahren eingespeist.
ZDF: Alles so in Ordnung
Dessen Ergebnis veröffentlicht das ZDF mit Datum vom 2. September, zwei Seiten lang, unterschrieben vom Intendanten Thomas Bellut.
Der Sender hätte da zum Beispiel schreiben können: Sorry, Kollege Angres hat sich da vertan. Oder: Er ist versehentlich dem uralten PR-Märchen von "Clean Coal" aufgesessen, tut uns leid.
Bellut hätte auch antworten können: "Ich habe ihm den Kopf gewaschen" – so hatte es der damalige ZDF-Chefredakteur 2007 nach eigenen Angaben getan, als Angres schon mal eine private Meinung (die er ja selbstverständlich haben kann) unter dem Logo des ZDF verbreitete.
Thomas Bellut jedoch schrieb, er könne "einen Verstoß gegen den Grundsatz der wahrheitsgetreuen Berichterstattung ... nicht erkennen".
Dies hier ist der zentrale Absatz von Belluts Antwort:
Also haben wir, weil wir davon ausgehen, dass der Intendant des ZDF keinen Quatsch schreibt und sorgfältig recherchiert (oder recherchieren lässt), die knapp 4.000 Seiten des frischen IPCC-Reports noch mal durchgesehen. Doch nirgends finden wir eine Stelle, wo der IPCC den Neubau von "modernen, deutschen Kohlekraftwerken ... in Indien oder in Afrika" fordert.
Nichts, nada. (Alles andere wäre auch verwunderlich, weil der Anfang August veröffentlichte Band 1 von naturwissenschaftlichen Grundlagen handelt. Um mögliche Anpassungsmöglichkeiten und Maßnahmen zur Emissionsminderung hingegen wird es erst in Band 2 und 3 gehen, die im Frühjahr 2022 erscheinen.)
"Kohlekraftwerke dürfen nicht mehr gebaut werden"
Sicherheitshalber haben wir dann nochmal direkt beim IPCC in Genf angefragt. Nein, antwortete ein Sprecher, er könne sich nicht vorstellen, dass der IPCC den Bau von Kohlekraftwerken empfehle.
Auch beim Sekretariat der Arbeitsgruppe 1 des IPCC, die den vorliegenden Berichtsband erarbeitet hat, heißt es klar: Für eine Aussage wie die von Volker Angres findet sich im Report keine Grundlage.
Doch es kommt noch dicker. Nicht nur steht im IPCC-Bericht nicht das, was der Leiter der ZDF-Umweltredaktion erzählt. Anlässlich der Veröffentlichung exakt dieses Reports sagte UN-Generalsekretär António Guterres exakt das Gegenteil:
Auf Deutsch: "Dieser Bericht muss die Totenglocke für Kohle und fossile Brennstoffe läuten, bevor sie unseren Planeten zerstören. Nach 2021 dürfen keine neuen Kohlekraftwerke mehr gebaut werden."
Der Grund dafür ist sonnenklar: Wer jetzt noch fossile Anlagen errichtet, egal ob sie effizienter sind als alte Kohleblöcke, muss sie jahrzehntelang laufen lassen, um die Investition wieder hereinzubekommen. Und das bedeutet bei diesen Riesenanlagen nun mal hohe, absolute Emissionen.
Doch weitere Jahrzehnte mit hohen Emissionen – das geht nicht mehr, wenn die Welt die schlimmsten Folgen der Erderhitzung noch verhindern will. Wer sollte das besser wissen als der Leiter der Umweltredaktion eines öffentlich-rechtlichen Qualitätsmediums?
Nur ein Missverständnis?
Worauf im IPCC-Report also stützt Volker Angres seine Empfehlung? Und worauf Thomas Bellut seine Verteidigung? Das haben wir letzte Woche nochmal die ZDF-Pressestelle gefragt. Und am Dienstag eine – überraschende – Antwort bekommen.
Das sei alles ein "Missverständnis", lässt Angres ausrichten. Sein Satz "Und genau das fordert der Weltklimarat" – siehe Zitat oben – habe sich gar nicht auf den Neubau von Kohlekraftwerken bezogen. Sondern nur darauf, dass man jetzt "Klimaschutz großskalig voranbringen" müsse.
Der Klima-Lügendetektor ist ein preisgekröntes Anti-Greenwashing-Portal, hinter dem die Journalisten Toralf Staud und Nick Reimer stehen. Dieser und weitere Beiträge, die Klimalügen und -tricks von Unternehmen, Politik oder Medien aufdecken, sind auf klima-luegendetektor.de zu finden.
Zugegeben, das fordert der IPCC tatsächlich. Folgt man dieser rabulistischen Erklärung, käme Angres um eine Kopfwäsche vom Chef herum. Das mit den Kohlekraftwerken wäre dann also kein Wiedergeben einer IPCC-Forderung, sondern schlicht Angres' private Meinung.
Der Haken daran: Sie ist nicht durch den Stand der Forschung gedeckt, und am selben Tag hat der UN-Generalsekretär das Gegenteil gefordert.
Entweder weiß Volker Angres das nicht, dann hat er nicht sorgfältig recherchiert. Oder er weiß es und sagt bewusst das Gegenteil. Wir wissen nicht, was für einen Leiter der ZDF-Umweltredaktion schlimmer wäre.