Warum sollte Deutschland schneller aus dem Erdgas aussteigen? Wegen des Klimaschutzes, lautete bisher die erste Antwort. Dieses Argument hält der Fachrat Energieunabhängigkeit offenbar gegenwärtig für nicht so zielführend.

Das legt jedenfalls die vor wenigen Tagen von dem Gremium vorgestellte Finanzierungsstrategie für die Erdgasunabhängigkeit Deutschlands nahe. Der Fachrat, ein freiwilliger Zusammenschluss von Expertinnen und Experten, wird vom Institut für zukunftsfähige Ökonomie (ZOE) koordiniert und vom Climate Finance Fund finanziert.

Die interdisziplinäre Gruppe hatte sich im Februar 2022 zusammengefunden, dem Monat, in dem Russland die Ukraine überfiel. Ein Jahr später nahm sich der Rat vor, eine wirtschaftspolitische Agenda für den Erdgasausstieg Deutschlands zu entwickeln.

Dringlichkeit des Erdgas-Ausstiegs hat abgenommen

Vor Jahresfrist erschien das ökonomisch sehr dringlich, inzwischen nicht mehr. Die Gasspeicher seien gut gefüllt, zwar bleibe gerade für energieintensive Unternehmen die wirtschaftliche Lage angespannt, doch eine Rezession sei bisher ausgeblieben, hält die 130-seitige Finanzierungsstrategie schwarz auf weiß fest.

Und weiter ist zu lesen: "Vor diesem Hintergrund blieb in Deutschland eine langfristige Antwort auf die Energiekrise abseits des Ausbaus an Solar- und Windkrafterzeugung bisher jedoch aus. Die Novelle des Gebäudeenergiegesetzes zielt zwar auf den Einbau erdgasfreier Heizsysteme wie Wärmepumpen, wurde jedoch vordergründig klimapolitisch diskutiert ohne besondere Berücksichtigung der geo- und energiepolitischen Fragen."

Vordergründig klimapolitisch zu diskutieren war zu eng gedacht? Bei der Präsentation des Berichts vor einer Woche plädierte auch die Transformationsforscherin Maja Göpel dafür, auf "positive Dinge" zu schauen, sich zu fragen, was Deutschland könne, und beim Erdgas weniger über das Klima und mehr über die Versorgungssicherheit zu reden.

Versorgungssicherheit sei nun einmal der "Grundstoff" von Ökonomie und politischer Gestaltungsfähigkeit, stellte Göpel fest, die Mitglied im ZOE-Beirat, aber nicht im Fachrat ist.

Auch für Jonathan Barth, ZOE-Direktor und Fachratssprecher, gehören beim Erdgasausstieg Sicherheit und Zuverlässigkeit in den Vordergrund, wie er bei der Präsentation betonte. Aus dem Import von Flüssigerdgas ergeben sich für Barth dabei neue Abhängigkeiten. Die Einfuhr von LNG nach Europa, vor allem aus den USA und Katar, habe sich in den letzten beiden Jahren verdoppelt, warnte er.

Finanzkonzept konzentriert sich auf Wärmebereich

Es sei gut gewesen, Europa vom russischen Erdgas abzukoppeln, so Barth weiter, dennoch seien die neuen Abhängigkeiten riskant. "Weder Deutschland noch Europa können sich darauf verlassen, dass Erdgas künftig stabil zur Verfügung stehen wird", sagte der Ökonom.

"Wir müssen schauen, wie wir langfristig nicht nur diversifizieren, sondern uns von der Möglichkeit unabhängig machen, erpresst zu werden." In vielen Bereichen könne das relativ schnell passieren, warnte der Ökonom.

Die vom Fachrat vorgelegte Finanzstrategie widmet sich vor allem dem Erdgasausstieg in der Wärmeerzeugung für Industrie und Gebäude. Außen vor bleibt die Stromerzeugung auf Gasbasis, wo die Ampel noch immer über die nötigen neuen "Backup"-Kraftwerke diskutiert.

Bei der Wärmeerzeugung hält es der Fachrat auch nach den vorgenommenen Kürzungen im 2024er Bundeshaushalt für möglich, bis zu 78 Prozent des hierzulande eingesetzten Erdgases zügig einzusparen.

Maßnahmen zur Erdgasunabhängigkeit

Zehn Maßnahmen schlägt der Fachrat vor, um die Erdgas-Unabhängigkeit Deutschlands zu verwirklichen:

  1. Schaffung einer Expertenkommission zur Beschleunigung der Erdgasunabhängigkeit
  2. "Ermöglichungspaket" für die kommunale Wärmewende
  3. Programm zum Hochlauf des Wärmecontractings für energetische Sanierung und Heizungstausch
  4. Abbau bürokratischer Hindernisse für die Wärmewende in Gebäuden
  5. Wärme-für-alle-Programm für benachteiligte Eigentümer
  6. Umschulung von Fachkräften für die Wärmewende
  7. Wissensaustausch von Pionierunternehmen über eine Industriewende-Beschleuniger-Plattform
  8. Erweiterung der EU-Taxonomie um Investitionen in erdgasfreie Technologien
  9. öffentliche Förderung in Höhe von drei Milliarden Euro jährlich
  10. Zinsvorteile für Kredite für Taxonomie-konforme Investitionen

Das Gremium hat dazu zehn Kernforderungen aufgestellt. Diese gingen bewusst über Maßnahmen wie Regulierung, CO2-Preise und Förderung hinaus und zielten darauf, ein Investitionsumfeld zu schaffen, das Vertrauen fördert, heißt es im Finanzkonzept.

"Wir müssen rauskommen aus den Ausreden, warum wir jetzt nicht handeln können – stattdessen sollen alle, die jetzt handeln können, zum Handeln befähigt werden", erläuterte Barth das der Strategie zugrunde liegende vertrauensbildende Konzept.

Es baut in der Hauptsache darauf, große Kapitalströme in erdgasfreie Technologien umzulenken. Laut dem Finanzierungskonzept haben diese umzulenkenden "Ströme" bei Gebäuden einen Umfang von rund 480 Milliarden Euro sowie in der Industrie von rund 44 Milliarden Euro.

Zu den 44 Milliarden erläuterte Barth, in der Industrie seien viele der großen Kostenblöcke auf die Transformation von Infrastruktur wie Gas- und Stromnetzen zurückzuführen. Die Kosten für einzelne Unternehmen seien dagegen überschaubar, erklärte der Fachratssprecher. Mit zehn Milliarden Euro könnte der Erdgasbedarf in der Industrie relativ schnell um die Hälfte gesenkt werden.

Dass mit dem neuen Gebäudeenergiegesetz und dem festgelegten Ausbau der LNG-Infrastruktur sich das Zeitfenster für den schnelleren Erdgasausstieg schon geschlossen habe, lässt der Fachratssprecher nicht gelten. Deutschland komme aus einer Zeit, als Erdgas als Brückentechnologie diskutiert wurde – diese Brücke, so Barth, sei zusammengebrochen.

Beim Umgang mit dieser Situation plädierte er dafür, eben nicht nur auf Diversifizierung des Erdgasbezugs zu setzen, sondern Deutschland von Erdgas unabhängig zu machen. Das sei Teil einer sicherheitsorientierten Energiepolitik.

 

Ob Sicherheit mehr politische Schlagkraft als Klimaschutz entwickelt, bleibt abzuwarten.