Sektgläser
Prost! Vom Wasserstoff als "ganz teurem Champagner der Energiewende" ist keine Rede mehr. (Bild: Reimund Bertrams/​Pixabay)

Im April dieses Jahres fühlte sich die deutsche Gasbranche einem Infarkt nahe. Da hatte Agora Energiewende – der Thinktank, bei dem der ehemalige Staatssekretär Patrick Graichen ein Jahrzehnt das Sagen hatte – Mitte des Monats eine Studie vorgelegt, die dem deutschen Gasnetz praktisch das Lebenslicht ausblies.

Wolle Deutschland 2045 klimaneutral sein, gebe es für bis zu 97 Prozent der Gasnetze keine Verwendung mehr, gab die Studie zu verstehen. Fossile Energieträger, also auch Erdgas, würden in Verkehr, Wärme und Industrie "weitestgehend" durch Strom ersetzt.

Würden die Gasnetze nicht rechtzeitig stillgelegt oder, wo möglich, auf Wasserstoff umgerüstet, drohten sogenannte "Stranded Assets", in den Sand gesetzte Vermögenswerte von bis zu zehn Milliarden Euro, warnte die Studie.

"Die geordnete und rechtzeitige Stilllegung der Gasverteilnetze ist eine zentrale Aufgabe in der Wärmewende", zog Simon Müller, Chef von Agora Energiewende, den logischen Schluss.

Mit der Studie lieferte der Thinktank zu der Zeit auch Begleitmusik zum "Heizungsgesetz". Ursprünglich sollte mit diesem Gesetz vor allem in den 16 Millionen Ein- und Zweifamilienhäusern ab 2024 der Einbau neuer Gas- und Ölheizungen nicht mehr gestattet sein.

Und schon bis 2030 wollte die Ampel-Regierung rund sechs Millionen Wärmepumpen einbauen lassen. Damit wäre, grob gerechnet, ein Drittel des privaten Gasmarktes für immer weg gewesen.

"Visionäres H2-Netz" der Gaswirtschaft 

Diese Ansage ließ die Gaswirtschaft nicht unbeantwortet. Die Vereinigung der Fernleitungsnetzbetreiber Gas (FNB Gas) konterte Agora Energiewende mit einer Studie zu einem "visionären H2-Netz". Dieses soll zu 90 Prozent auf der Umstellung bestehender Erdgastrassen auf Wasserstoff beruhen.

 

Dann stünden für ein künftiges H2-Netz schon mal 5.900 Kilometer Netz zur Verfügung, nur 600 Kilometer müssten neu gebaut werden, rechneten die Gasnetzbetreiber vor.

Hintergrund der Kontroverse ist die Frage: Wer wird den Energiemarkt künftig dominieren? Wird es der Ökostrom in einer "all electrical world" sein? Oder behalten die Moleküle – Erdgas und später Biogas, Wasserstoff und dessen Abkömmlinge wie Ammoniak und E-Fuels – ihre Vorherrschaft?

Derzeit stammen noch 80 Prozent der in Deutschland verbrauchten Energie aus Molekülen, vor allem aus fossilem Gas und Öl. Nur 20 Prozent des Energiebedarfs werden mit Strom gedeckt – und davon ist auch erst die Hälfte Ökostrom.

Dass es bei 80 Prozent Molekülen und dem heutigen Gasnetz nicht bleibt, ist auch dem mächtigen Energie- und Wasserwirtschaftsverband BDEW klar. Für sinkende Anteile der Moleküle werde allein schon die zunehmende Elektrifizierung von Verkehr und Wärmemarkt sorgen, sagte BDEW-Chefin Kerstin Andreae letzte Woche bei der Präsentation eines Konzepts für den künftigen Wasserstoff-Markt.

H2-Netz beeinflusst kommunale Wärmepläne

Andreae zweifelt auch nicht daran, dass im Gasnetz Rückbau notwendig wird. "Es wird Regionen geben, in denen das Gasverteilnetz künftig keine Rolle mehr spielt", erklärte sie. Dazu werde eine entsprechende Gasnetz-Regulierung gebraucht, in deren Folge klar werde, welche Pipelines weitergenutzt, welche umgewidmet und welche stillgelegt werden.

Zuletzt warb die BDEW-Chefin freilich bei jeder Gelegenheit dafür, dass Wasserstoff auch in der Raumwärme eine Chance bekommt. Eine künftige Option ist Wasserstoff für Andreae vor allem dort, wo es ein H2-Netz für die Industrie und zugleich einen Wohnungsbestand gibt, der nicht an Fernwärme angeschlossen und in einem schlechten Sanierungszustand ist.

Erdgas-Fernleitung der Ruhr Oel GmbH zu den Gasometern der Kokerei Prosper in der Welheimer Mark in Bottrop.
Wie viele Gasleitungen braucht es in einer klimaneutralen Zukunft? Viele, sagen die Gasnetzbetreiber. (Bild: Frank Vincentz/​Wikimedia Commons)

Auch Gasfirmen fragen sich inzwischen: Wenn Industrie und Gewerbe nun erstmal weiter mit Erdgas und dann mit Wasserstoff versorgt werden – warum soll das dann zur Gebäudeheizung nicht auch gestattet sein, wo doch H2-Leitungen auch an Wohnquartieren vorbeiführen werden?

99 Prozent der Industrie- und Gewerbekunden würden derzeit Gas über die Verteilnetze beziehen, argumentiert auch der Verband kommunaler Unternehmen (VKU), der kürzlich ein H2‑Positionspapier vorgelegt hat. Eine technologieoffene kommunale Wärmeplanung dürfe Wasserstoff in der Wärmeversorgung nicht grundsätzlich ausschließen, fordert der kommunale Lobbyverband, der vor allem Stadtwerke vertritt.

Das H2-Problem in der Raumwärme landet jetzt erstmal bei den Kommunen, die bis 2028 eine eigene Wärmeplanung vorlegen müssen. Ob Wasserstoff dabei eine Chance hat, hängt vielfach wiederum davon ab, ob es ein bundesweites H2-Netz gibt.

Ohne Wasserstoff hilft kein Netz

Wie groß das Netz ausfallen wird – dazu erwartet BDEW-Chefin Andreae noch intensive Debatten mit der Regierung, wie sie letzte Woche verdeutlichte. Das dürfe kein "Champagner"-Netz werden, betonte sie. Gebraucht werde ein wirkliches Kernnetz, mit dem auch Industriecluster in Süddeutschland erreicht werden. Und da gehe es nicht nur um das H2 für die Dekarbonisierung der Grundstoffindustrie, vielmehr seien alle Sektoren in den Blick zu nehmen.

Mit dem Champagner-Bild knüpft Andreae an die langwährende Debatte an, welche Rolle speziell der grüne Wasserstoff künftig überhaupt spielen wird und ob Deutschland davon so wenig wie möglich oder so viel wie nötig einsetzen soll.

Bisher wirkt diese Debatte noch akademisch. Nach wie vor ist gerade grüner Wasserstoff so gut wie nicht verfügbar. Der Wasserstoffhochlauf sei ins Stocken geraten, kritisierte Kerstin Andreae ebenfalls. Bisher sei keine nennenswerte Erzeugungskapazität aufgebaut worden. Seit Monaten warteten die Branchen auch auf die fällige Fortschreibung der nationalen Wasserstoffstrategie.

Deutschland dürfe nicht länger im Paradigma der Knappheit verharren, verlangt der Energiebranchenverband. Der H2-Hochlauf müsse jetzt starten und spätestens 2030 müsse der grüne Wasserstoff in Deutschland ankommen.

Keine Frage: Ohne den Stoff nützt auch das schönste Wasserstoff-Netz nichts. Da wäre der Infarkt für die Gaswirtschaft nur aufgeschoben.