Windpark und Solarpark in flacher Landschaft bei heiterem Himmel.
Auch die erneuerbare Energiewelt benötigt Flächen und Rohstoffe, funktioniert aber auch unter den Bedingungen der Klimakrise. (Foto: Erich Westendarp/​Pixabay)

Das Lieblingsargument gegen Windkraft und Solarenergie lautet bekanntlich: Was passiert, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint?

Befürworter grüner Energien geraten da nicht mehr ins Stottern. Sie sprechen dann von großen und kleinen, von kurz- und langfristigen Speichern, von Flexibilitäten, Lastabsenkungen und dergleichen. Sinn des Ganzen ist es, das schwankende Angebot und den ebenso schwankenden Bedarf an Strom aufeinander abzustimmen. Eine Raketenwissenschaft ist das nur für vernagelte fossile und atomare Fans.

Je schneller der Klimawandel aber voranschreitet, desto mehr müssen wir offenbar noch anders auf Wind- und Solarenergie blicken – wegen eines einfachen Vorteils: Auch in einer Welt der Klimakrise wird weiter die Sonne scheinen und der Wind wehen.

Anders gesagt: Wetterextreme wie Dürren, Starkniederschläge oder ausgedehnte Tiefs und Hochs können der Solar- und Windkraft nicht allzu viel anhaben. Damit heben sie sich von fossilen und atomaren Kraftwerken ab, aber auch von Biomasse-Anlagen. Alle diese Kraftwerke sind in verschiedenem Maße auf die sichere und ausreichende Verfügbarkeit von Wasser oder Brennstoffen angewiesen.

"Im Gegensatz zu fossiler Energie ist die Stromerzeugung mit Wind- und Solarkraft resilienter gegenüber Wetterextremen und damit krisensicherer", betonen auch Manager des Vermögensverwalters DWS. Der Fonds investiert vor allem in nachhaltige Energie und effiziente Energienetze. Die dezentrale Struktur von Wind- und Sonnenenergie habe sich als Vorteil bei Extremwetterlagen erwiesen, loben die Finanzleute.

Erneuerbare passen Energiesystem an Klimawandel an

Mit der weitgehenden Umstellung auf Wind und Sonne als wichtigste Energieerzeuger lassen sich also zwei Aufgaben gleichzeitig lösen: das Klima schützen und das Energiesystem an den Klimawandel anpassen.

Die Wissenschaft beschreibt es so: Grüner Strom, gewonnen im Wesentlichen aus Wind und Sonne, wird die neue Primärenergie anstelle von Kohle, Öl, Gas und Atomkraft. Mit dem Ökostrom werden auch alle Bedarfe möglichst direkt elektrisch abgedeckt – in Verkehr, Industrie, Gebäuden und was sonst noch zum Funktionieren Energiezufuhr benötigt.

Das bedeutet eine fast vollständige Umkehrung heutiger Verhältnisse. Derzeit deckt Deutschland mit Strom nur etwas mehr als 20 Prozent seines Endenergieverbrauchs ab – und die Hälfte davon ist Strom aus erneuerbaren Quellen, inzwischen als "grüne" Elektronen tituliert.

Die anderen 80 Prozent werden in Deutschland durch "Moleküle" abgedeckt, vor allem fossile wie Gas, Öl und Kohle. Nur einen sehr kleinen Teil machen "grüne Moleküle" aus, in erster Linie Biogas oder Biodiesel. Grünen Wasserstoff und E‑Fuels gibt es bisher nur fingerhutweise.

Auch in einem zu hundert Prozent erneuerbaren Energiesystem wird es Elektronen und Moleküle geben – nur kehren sich die Verhältnisse um. Ungefähr ab 2045 werden, wenn die Transformation klappt, grüne Elektronen 60 bis 70 Prozent und grüne Moleküle 30 bis 40 Prozent des Endenergiebedarfs abdecken. Das erklärte Mario Ragwitz vom Fraunhofer-Institut für Energieinfrastrukturen und Geothermie (IEG) kürzlich auf einer Konferenz des Energie- und Wasserverbandes BDEW im brandenburgischen Cottbus.

Zusätzlich zum Wechsel von Molekülen zu Elektronen rechnet Ragwitz auch mit einem deutlich sinkenden Bedarf an Endenergie. Dieser liegt in Deutschland zurzeit bei 2,5 Billionen Kilowattstunden jährlich und könnte bis 2030 auf 2,2 bis 1,9 Billionen sinken. Mitte des Jahrhunderts könnten, je nach Entwicklungspfad, sogar 1,8 bis 1,1 Billionen Kilowattstunden ausreichen.

So steht es in der im Februar veröffentlichten Akademie-Studie "Energiesysteme der Zukunft", an der Ragwitz federführend mitgeschrieben hat. Der verringerte Energiebedarf beruht laut der Studie maßgeblich auf Effizienzgewinnen.

Grüne Elektronen setzen sich gegen grüne Moleküle durch

Die Energiebranche sieht sich also einer zweifachen Marktverschiebung gegenüber: Der Energiebedarf schrumpft erstens und zweitens setzen sich effizientere grüne Elektronen gegenüber grünen Molekülen durch.

Daraus folgt ein doppelter Machtwechsel. Nicht nur, dass die fossile und atomare Lobby ihre Macht an grüne Energien verliert, auch innerhalb des Systems verschieben sich Verhältnisse. Die Molekül-Branche, die seit Jahrhunderten die Energiewelt beherrschte, wird ihre Vormacht an die Elektronen abgeben müssen.

Die heutige Gas- und Öllobby wird dabei nahezu gedemütigt. Denn grüne Moleküle wie Wasserstoff und E‑Fuels werden in einer klimaneutralen Welt im Wesentlichen auf drei Quellen beruhen: erstens Wasser, zweitens CO2 aus der Luft oder aus Industrieprozessen und drittens Strom aus Wind und Sonne.

Moleküle werden also vom Strom abhängig. Dazu kommt noch der Kostennachteil der grünen Moleküle. Denn gegenüber dem Direkteinsatz des Ökostroms beispielsweise in einem E‑Auto muss man für dieselbe Fahrleistung auf der Basis von E‑Fuels die sechsfache Strommenge hineinstecken.

Kein Wunder, dass sich vor diesem Hintergrund schon jetzt ein massiver Kampf um die künftige Herrschaft im Energiemarkt abspielt. Das war auch auf der Cottbuser Konferenz des BDEW zu spüren.

Konventionelle Gasversorger stellten dort ambitionierte Projekte vor, die beispielsweise ganz Brandenburg mit einem Netz von Wasserstoff-Leitungen durchziehen und auch ganz Berlin einkreisen wollen.

Danach soll leitungsgebundener Wasserstoff die Hälfte des künftigen Energiebedarfs Brandenburgs decken. Selbst branchenfreundlich berechnete Kosten sollen dafür jenseits der 1,1 Milliarden Euro liegen.

Um dies refinanzieren zu können, schwebt den Fans großer Wasserstoffnetze ein Anschlusszwang für Haushalte und Kommunen vor. So soll verhindert werden, dass Leute auf Wärmepumpen umsteigen oder Unternehmen sich einen eigenen Elektrolyseur zulegen, um grünen Wasserstoff herzustellen. Dafür braucht man künftig eben nur noch Strom und Wasser.

Verfügbarkeit von billigem Grünstrom ist entscheidend

Doch egal, ob nun die Elektronen oder die Moleküle den Markt dominieren werden: Die entscheidende Voraussetzung für die schöne neue Energiewelt ist die Verfügbarkeit von riesigen Mengen billigen grünen Stroms.

Das ist die Grundlage aller Träume von einer klimaneutralen Wirtschaft und der entscheidende Machtfaktor im künftigen Energiesystem. Wer über genügend grüne Energie disponiert, übt die Macht aus. Grüner Strom, vor allem der aus Sonne und Wind, ist der Herrscher in der neuen Energiewelt – und zwar international.

Die Branche hat auch dies erkannt. Auf der Tagung in Cottbus absolvierte Kirsten Westphal, eine der renommiertesten Energieexpert:innen Deutschlands, ihren ersten Auftritt als neu berufenes Mitglied der Hauptgeschäftsführung des mächtigen BDEW.

Die Politologin hatte sich zuvor in der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) mit globaler Energiepolitik befasst. Warum sich ein deutscher Branchenverband eine Energieaußenpolitikerin in die Chefetage holt, stellte Westphal in ihrer Rede klar.

Das Energiesystem werde das Fundament für die allseits zitierte Zeitenwende bereitstellen müssen, sagte sie. Diese Wende müsse man nicht nur militärisch und sicherheitspolitisch denken, sondern auch energiepolitisch.

"Wir erleben gerade die erste globale Energiekrise mit Europa im Zentrum", so Westphal weiter. Russland sei der weltgrößte Exporteur von Energie gewesen – nun werde die Welt neu geordnet.

Künftig, so Westphal, gehe es um die Kontrolle von Lieferketten, von Waren, Rohstoffen und Informationen, aber auch von Elektronen und Molekülen sowie um die Kontrolle der "Knotenpunkte", an denen diese Dinge gehandelt und ausgetauscht würden. "Sicherheit der Energieversorgung und Resilienz sind Grundvoraussetzungen für strategische Handlungsfähigkeit und Souveränität", betonte die Politologin.

Sicherheit bedeutet künftig für Deutschland nicht zuletzt: sichere Importe von grüner Energie. Denn nur am unteren Rand der Endenergie-Prognosen, wenn Deutschland möglicherweise mit einer Billiarde Kilowattstunden zurechtkommt, ist so etwas wie eine grüne Selbstversorgung des Landes möglich.

Andere Voraussagen, insbesondere der Molekülwirtschaft, gehen davon aus, dass Deutschland bis zu 80 Prozent der grünen Brennstoffe wie Wasserstoff, Ammoniak und E‑Fuels wird importieren müssen – und bei Wasserstoff ist wiederum der Pipeline-Transport bis zu einer Entfernung von gut 3.000 Kilometern effizienter als ein Schiffstransport.

Stromnetze schaffen "Schicksalsgemeinschaften"

Dementsprechend plädierte Westphal auf der BDEW-Konferenz dafür, die Resilienz über die nationalen Grenzen hinauszudenken, in "Energieräumen" zu denken.

Für die ehemalige Wissenschaftlerin keine neue Idee. Als SWP-Expertin hat sie maßgeblich an einer Studie mitgearbeitet, die sich mit der "Geopolitik des Stroms" befasst und im September 2021 veröffentlicht wurde.

Obwohl Stromnetze Räume konstituierten, werde die geopolitische Bedeutung von Strom unterschätzt, heißt es in der Studie. Netze etablierten neue Einflusskanäle und Machtsphären in politischen Gemeinwesen und über diese hinaus.

Dabei erweist sich die Zugehörigkeit zum europäischen Netzverbund laut der Studie als attraktiv, denn synchrone Netze seien "Schicksalsgemeinschaften", in denen Sicherheit und Wohlfahrt geteilt würden.

In der Analyse wird die Forderung erhoben, Deutschland und die EU müssten eine Strom-Außenpolitik entwickeln, um das europäische Stromnetz zu optimieren und zu modernisieren, zu verstärken und zu erweitern.

Denn das europäische Kontinentalnetz bildet nach Ansicht der Autor:innen ein hoch integriertes und attraktives Zentrum. Die Zugehörigkeit zu diesem Netz binde Nachbarländer an die EU und verbinde sie mit ihr.

In diesem Licht erscheint beispielsweise die Integration der Ukraine in den westeuropäischen Stromverbund keinen Monat nach dem Beginn des russischen Krieges nicht nur als Maßnahme, um das Stromnetz der Ukraine zu stabilisieren. Hier geht es offenbar auch längerfristig um die Bildung einer "Schicksalsgemeinschaft".

Dezentral und kontinentweit

Dies ist durchaus auch in Gegenseitigkeit zu sehen. Große Flächenländer wie die Ukraine bieten beispielsweise gute Möglichkeiten, in großen Mengen billige grüne Energie zu erzeugen – und zu exportieren, sei es als Strom oder als Wasserstoff oder andere grüne Derivate. Solche Projekte liegen längst schon in den Schubladen der deutschen Energiebranche.

Vordergründig bietet ein möglichst großer, viele Länder und Zeitzonen übergreifender Stromverbund auch ganz praktische Vorteile – zum Beispiel die steigende Wahrscheinlichkeit, dass immer irgendwo die Sonne scheint und der Wind weht.

Ein klimaneutrales und klimaresilientes Energiesystem muss offenbar beides vereinen: möglichst dezentral und möglichst kontinentweit aufgestellt sein. Erst beides zusammen ermöglicht es den grünen Elektronen, der neue Herrscher der Energiewelt zu werden.

Anzeige