Illegales Holz
Zur legalen Abholzung in Brasilien kommt die illegale. (Foto: Wilson Dias/​Agência Brasil/​Wikimedia Commons)

Sein Spitzname ist "Tropen-Trump". Das Wahlprogramm von Brasiliens neoliberalem Präsidenten Jair Bolsonaro umfasste als einen zentralen Punkt die weitere Öffnung des Amazonas-Regenwaldes für die Agrar- und Rohstoffindustrie: Den indigenen Völkern in ihren Schutzgebieten wolle er "keinen Zentimeter" lassen.

Und dieses Programm setzt er seit seinem Amtsantritt Anfang 2019 konsequent um. Im vorigen Sommer schockte die große Zahl von Feuern im Amazonasgebiet die Weltöffentlichkeit – Folge von Brandrodungen für neue Sojafelder, Rinderweiden, Infrastruktur.

Ein unter Druck geratener Bolsonaro sah sich am Ende sogar gezwungen, das Militär zu schicken, um bei der Bekämpfung der völlig außer Kontrolle geratenen Feuer zu helfen.

Der Amazonas-Regenwald ist das größte tropische Regenwaldgebiet der Erde, er umfasst anderthalbmal die Fläche der EU. Er gilt als "Klimamaschine" und "grüne Lunge" des Globus, hier findet rund ein Viertel des Kohlenstoff-Austauschs zwischen Atmosphäre und Biosphäre statt. Außerdem beherbergt er einen ungeheuren Artenreichtum, nämlich etwa zehn Prozent der weltweiten biologischen Vielfalt.

Was in der Aufregung über die Brände des vergangenen Jahres kaum beachtet wurde: In früheren Jahrzehnten gab es Zeiten mit noch stärkerer Waldvernichtung, etwa in den 1980er Jahren, als die Umweltkrise am Amazonas erstmals richtig Fahrt aufnahm, oder Anfang der 2000er.

"Das System droht in Kürze zu kippen"

Bolsonaros neue Attacke ist deshalb so gefährlich, weil sie in einem bereits stark in Mitleidenschaft gezogenen Ökosystem stattfindet. Der Wald ist vielerorts nicht mehr geschlossen, sondern besteht zum Beispiel im brasilianischen Teil, der rund 60 Prozent ausmacht, aus über 300.000 Fragmenten.

Wissenschaftler befürchten, dass er beim weiteren Fortschreiten der Vernichtung kollabieren könnte – er ist damit eines der Kippelemente im globalen Klimasystem.

Rückgang der nordischen Nadelwälder 

Die borealen Wälder im Norden von Europa, Asien und Nordamerika stellen mit rund 15 Millionen Quadratkilometern über ein Drittel der globalen Waldfläche. Sie erstrecken sich in etwa zwischen dem 50. und dem 70. Breitengrad.

Es sind hauptsächlich Nadelwälder, die im hohen Norden in die baumlose Tundra und am südlichen Rand in den Wald gemäßigter Breiten übergehen, wie er auch in Deutschland zu finden ist. Sie haben eine ökologisch, aber auch ökonomisch wichtige Funktion. Rund 90 Prozent des Bedarfs an Papier- und Schnittholz werden hier gedeckt.

Der Klimawandel setzt die Bäume zunehmend unter Stress – durch Schädlinge, Stürme, Trockenheit, höhere Brandgefahr. Klimaforscher erwarten, dass die Wälder ab einer globalen Erwärmung um etwa drei Grad zusammenbrechen und von Busch- und Graslandschaften verdrängt werden. Der Kipppunkt könnte aber auch früher erreicht werden.

Als Warnzeichen gilt, dass 2019 am nördlichen Polarkreis Brände in bisher unbekanntem Umfang wüteten, unter anderem in Sibirien und Alaska. Ein Verschwinden der borealen Wälder würde nicht nur den Lebensraum vieler Tiere vernichten, sondern auch eine massive CO2-Freisetzung und damit Beschleunigung der Erderwärmung bedeuten.

Die brasilianische Weltraumbehörde Inpe schätzt, dass die kritische Marke bei einer Vernichtung von 20 bis 25 Prozent der Gesamtfläche liegt. Dieser Kipppunkt ist womöglich nicht mehr fern. Verloren sind bereits rund 17 Prozent, und eine ähnlich große Fläche gilt als geschädigt.

Andere Experten sehen den Kipppunkt noch nicht so nahe. Doch auch sie befürchten, dass irgendwann große Teile des bisherigen Regenwaldes zu einer offenen Savanne mit Gräsern und einigen Bäumen mutieren – vor allem im Süden der Region. Nach den Prognosen einiger Klimamodelle könnte der Wald im Laufe dieses Jahrhunderts sogar komplett verschwinden.

Laut dem brasilianischen Klimaforscher Carlos Nobre und dem US-Biologen Thomas Lovejoy deutet sich der Wandel zur Savanne inzwischen bereits an. Im 20. Jahrhundert ist die mittlere Temperatur im Wald um ein bis 1,5 Grad angestiegen, und seit 1970 hat sich die Trockenzeit in Teilgebieten von vier auf fünf Monate verlängert.

Die schweren Dürren in den Jahre 2005, 2010 und 2016 sehen Nobre und Lovejoy als Anzeichen, aber auch die starken Niederschläge in den Jahren dazwischen, wie sie 2018 im Magazin Science schrieben. Möglicherweise beginne das Ökosystem zwischen den beiden Extremen zu taumeln – Vorstufe eines gravierenden Umschwungs.

Der Biodiversitäts-Experte Lovejoy erläutert: "Ab einer Abholzung von einem Viertel des Waldes beginnt der Wasserkreislauf zu versagen, der den Amazonas-Regenwald versorgt." Derzeit verdunstet der Wald noch 20 Billionen Liter Wasser am Tag, das ist mehr, als der Amazonas in den Atlantik spült. Lovejoy warnt: "Das System droht in Kürze zu kippen."

Mit einem Versagen der gigantischen "Wettermaschine" am Amazonas würde wohl ganz Südamerika in eine Krise gestürzt, unter anderem könnte die Agrarproduktion stark zurückgehen. Doch nicht nur für die Region wären die Folgen fatal, auch der Klimawandel würde weiter beschleunigt, da der Regenwald dann als CO2-Speicher ausfiele.

Schneller als in Worst-Case-Klimamodellen

Bereits heute ist diese Funktion beeinträchtigt, wie eine jüngst vorgelegte Studie eines internationalen Forscherteams zeigt. Danach verliert der Amazonas-Wald bereits seit 30 Jahren sukzessive die Fähigkeit, CO2 aus der Atmosphäre aufzunehmen und in der Biomasse zu speichern.

Schon Mitte der 2030er Jahre könne er sogar zu einer Quelle von Treibhausgasen werden, erwarten die Experten um Geografieprofessor Simon Lewis von der Universität Leeds in Großbritannien. Lewis kommentiert: "Wir haben festgestellt, dass eine der besorgniserregendsten Auswirkungen des Klimawandels bereits begonnen hat. Das ist selbst den pessimistischsten Klimamodellen um Jahrzehnte voraus."

Serie: Kippelemente

Werden die Kippelemente im Klima- und Erdsystem ausgelöst, kann es zu Kettenreaktionen kommen, durch die sich die Erderwärmung unkontrollierbar verstärken würde. Wissenschaftler haben 16 Kippelemente identifiziert, die sogar für ein Ende der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen, sorgen könnten. Wir stellen sie in einer Serie vor.

Brasilien hat sich zwar im Rahmen des Paris-Abkommens von 2015 verpflichtet, bis 2030 rund 120.000 Quadratkilometer Wald wiederaufzuforsten. Doch die Chancen, dass das geschehen wird, erscheinen unter Bolsonaro gering.

Zwar hat die Regierung im Januar die Gründung eines "Amazonas-Rats" angekündigt, der den Schutz des Gebiets koordinieren soll, Experten sehen darin aber nur ein Feigenblatt. Die aktuelle Politik fördert das Gegenteil.

Ende 2019 hat Brasilia ein Verbot des Zuckerrohranbaus im Amazonasgebiet aufgehoben. Außerdem will die Regierung ein Gesetz zur Regulierung von Ölförderung und Bergbau in Indigenen-Gebieten im Nationalkongress verabschieden lassen. Das bedroht weite Teile des dort noch vergleichsweise gut erhaltenen Waldes.