Porträtaufnahme von Tim Meyer.
Tim Meyer. (Foto: Naturstrom)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Tim Meyer, Vorstand beim Öko-Energieversorger Naturstrom.

Klimareporter°: Herr Meyer, dass Deutschland bis 2035 CO2-neutral werden kann, wie es das Wuppertal-Institut für Fridays for Future errechnet hat, hält der Chef der Deutschen Energie-Agentur Dena, Andreas Kuhlmann, für nicht umsetzbar. Kann Deutschland in 15 Jahren bei null Emissionen ankommen?

Tim Meyer: Ich halte vor allem die ewigen Diskussionen darüber, was beim Klimaschutz alles nicht geht, für falsch.

Die Studie der Wuppertaler leistet einen wichtigen Beitrag, indem sie die Radikalität notwendiger Maßnahmen zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels aufzeigt. Und wenn Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht bald aus dem Quark kommen, müssen wir in wenigen Jahren mit derselben Radikalität um die Einhaltung eines Zwei-Grad-Ziels kämpfen.

Die Studie zeigt also, über welche Dimension von Wirtschafts- und Strukturwandel wir reden. Für das 1,5-Grad-Ziel müssten wir den Ausbau der Erneuerbaren bis 2035 durchgängig auf das Vier- bis Fünffache der Jahre 2018 und 2019 steigern und die energetische Sanierungsrate für Gebäude aus dem Stand vervierfachen. Von der notwendigen Transformation der Industrie und des Verkehrssektors ganz zu schweigen.

Ich sehe das auch mit den Augen eines Regelungstechnikers: Wir müssen jetzt unmissverständlich klarmachen, dass wir bereit sind, einen radikalen Weg zu gehen – mit klarer Betonung auf "jetzt". Das heißt, wir müssen jetzt die Anreize und den Rahmen setzen, damit sich Wirtschaft und Gesellschaft mit aller Kraft auf den Weg machen, die notwendige Vervielfachung unserer Geschwindigkeit beim Klimaschutz in einigen Jahren tatsächlich zu erreichen.

Wir reden also über langfristig gedachte und wirklich große Anreize, aber auch die Ankündigung von zukünftigen Verboten. Und wir müssen jetzt Rückkopplungsschleifen einrichten, um innerhalb eines für alle klar verständlichen Zielkorridors der Entwicklung nachsteuern und Ausgleichsmechanismen schaffen zu können, falls zu viele gesellschaftliche Verlierer entstehen.

Dafür brauchen wir eine viel breitere gesellschaftliche Diskussion über alle Akteursgruppen hinweg. Und wir müssen uns von einigen liebgewonnenen Lebenslügen in Bezug auf unsere Wirtschafts- und Lebensweise verabschieden.

Natürlich wird die Trägheit des Systems dazu führen, dass wir nicht ab nächstem Jahr viermal so viele Gebäude sanieren. Welche Innovationen und Lösungen Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln, wenn endlich ehrlicher kommuniziert wird und Rahmen und Anreize klar gesteckt sind, vermag aber heute niemand zu sagen.

Wer weiß schon, welche Technologien uns in den nächsten 15 Jahren zu welchen Kosten zur Verfügung stehen werden? Also: Nicht entmutigen lassen, weitermachen! Im Übrigen glaube ich, dass die meisten Menschen mit unbequemen Wahrheiten viel besser umgehen können als gemeinhin angenommen.

Nach fünf Jahren hat die Bundesregierung einen neuen Fortschrittsbericht zu Klimaanpassung vorgelegt. Umweltministerin Svenja Schulze gab zu, dass man sich vor fünf Jahren nicht haben vorstellen können, dass es in Deutschland Gemeinden mit Wasserknappheit gibt oder dass Senioren an Sommertagen nicht mehr einfach vor die Tür gehen können. Wie erleben Sie die Dynamik des Klimawandels und was kann dagegen getan werden? 

Die aktuelle Dynamik bedrückt mich. Man muss nur die Meldungen der letzten Wochen über die besorgniserregende Eisschmelze an den Polen oder den weltweiten Temperaturrekord im September betrachten. Die Folgen der menschengemachten Erderhitzung bekommen wir auch bei uns in Deutschland mehr und mehr zu spüren.

Und selbst wenn wir noch so entschlossen gegen die Klimakrise vorgehen, werden wir mit dem Temperaturanstieg, den wir heute bereits messen und nicht mehr abwenden können, langfristig leben müssen. Anpassungsstrategien gewinnen somit an Gewicht.

Als Hamburger denke ich da sofort an den Hochwasserschutz, den größten Hebel sehe ich aber bei der Stadtplanung. Mehr Grün und mehr Wasserflächen in den Innenstädten, viel weniger Autoverkehr, beschattete Plätze im öffentlichen Raum – um nur wenige Beispiele zu nennen.

Es kommt aber nicht nur auf die öffentliche Hand an, sondern auch auf die Privatwirtschaft und jeden Einzelnen: Überall, wo in Deutschland saniert oder neu gebaut wird, sollten Anpassungsmaßnahmen an die Erderhitzung ebenso mitgedacht werden wie die Nutzung erneuerbarer Energien.

Und wir müssen verhindern, dass Anpassungsreaktionen das Problem verschärfen, indem wir steigenden Kühlbedarf oder verändertes Mobilitätsverhalten vorhersehen und in den Griff bekommen.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Das positive Echo, das die von Naturstrom ins Leben gerufene Initiative #wirspielennichtmit hervorgerufen hat, hat meine Erwartungen noch übertroffen. Mit dieser Initiative richten wir uns gegen die Neuordnung des Energiemarkts, die Eon und RWE mit ihrem Megadeal anstreben: Die beiden Großkonzerne haben Geschäftsaktivitäten und -anteile so untereinander getauscht, dass sie künftig nicht mehr im Wettbewerb zueinander stehen.

Dieses Energiemarkt-Monopoly schadet nicht nur anderen Anbietern, sondern mittelfristig auch den Verbraucherinnen und Verbrauchern – und dabei spielen wir nicht mit. "Wir spielen nicht mit" steht deshalb für einen fairen Energiemarkt und den Erhalt der Anbietervielfalt.

Mehrere Energieversorger und weitere Akteure aus dem Energiebereich haben sich der Initiative in den letzten Tagen angeschlossen, das wird bald auch auf der Website wir-spielen-nicht-mit.de sichtbar sein.

Fragen: Jörg Staude

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