Klimareporter°: Frau Kemfert, die Kohlekommission trifft sich heute zur vermutlich entscheidenden Sitzung. Ist ein Durchbruch überhaupt noch drin? Das Gremium musste schon zwei Monate nachsitzen, und dann schaltete sich jüngst noch die Kanzlerin direkt ein ...
Claudia Kemfert: Drin ist alles. Es wird aber nicht leichter. Leider haben wir viel Zeit verloren, was nur den Lobbyisten der Vergangenheit in die Hände spielt.
Die Wirtschaftsverbände BDI, DIHK und BDA haben mit einem Veto gegen den Kohle-Ausstiegsplan gedroht. Sie befürchten, dass die Stromkosten in Deutschland bis 2030 um – alles in allem – bis zu 54 Milliarden Euro ansteigen könnten. Was ist da dran?
Das sind nur die immer gleichen Horrorszenarien, die auch nicht durch Wiederholung wahrer werden. Fakt ist: Während Kohlestrom durch steigende CO2-Preise immer teurer wird, werden die erneuerbaren Energien immer billiger.
Lässt sich der Kohle-Ausstieg wirtschaftsverträglich gestalten? Und wie?
Die eigentliche Frage ist doch, ob sich das Festhalten an der Kohle noch ökonomisch rechtfertigen lässt. Relevante wirtschaftliche Chancen entstehen nur, wenn wir endlich in die Energiewende investieren. Das würde zur dringend notwendigen Modernisierung der deutschen Wirtschaft führen – samt Innovationen, Wertschöpfung und Hunderttausender zukunftsfähiger Arbeitsplätze. Das Festhalten an der Kohle dagegen schwächt die deutsche Wettbewerbsfähigkeit dauerhaft.
Wie sähe ein Ausstiegs-Pfad aus, der sowohl das Klima als auch Jobs und Strukturwandel berücksichtigt?
Zur Person
Claudia Kemfert leitet den Energie- und Umweltbereich am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und ist Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit an der Privatuniversität Hertie School of Governance in Berlin. Seit 2016 ist sie Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen, der die Bundesregierung berät.
Kemfert hat Wirtschaftswissenschaften in Bielefeld, Oldenburg und Stanford studiert. In zahlreichen Beiräten und Kommissionen ist sie unter anderem für die EU-Kommission und für verschiedene Forschungsinstitute tätig. Sie ist Kuratoriumsmitglied von Klimareporter°.
Ein effektiver Ausstiegspfad entstünde durch eine klare Emissions-Obergrenze. Dann würde die Kraftwerksbetreiber ihre Kapazitäten klüger einteilen – also alte und ineffiziente Kohlekraftwerke schnell abschalten, damit sie jüngere und effizientere Kraftwerke länger laufen lassen können. So könnten wir das Ende der Kohle langsam einläuten und für die verbliebenen rund 5.000 Beschäftigten in der Kohleindustrie bis 2030 in Ruhe neue Perspektiven finden.
Ist in der Kommission so etwas durchsetzbar?
Wenn alle vernünftig sind, natürlich.
Viele Kohlekraftwerke müssten bereits bis 2022 vom Netz, um beim Klimaschutz in die Spur zu kommen. Das ist aber auch die Endphase des Atomausstiegs. Drohen da nicht Strommangel und Blackouts, besonders in Süddeutschland?
Die nächste Horrorfantasie aus der Lobbyisten-Mottenkiste. Nein, nichts droht. Man würde nur Überkapazitäten reduzieren.
Was muss denn geschehen, um das Stromnetz stabil zu halten?
Stabilität entsteht, indem wir das Energiesystem digital, dynamisch und dezentral gestalten. Erneuerbare Energien ergänzen sich wechselseitig; deswegen sollten wir sie schnell und flächendeckend ausbauen. Damit einher gehen intelligente Energienetze und Speichersysteme.
Die Ministerpräsidenten der vier Braunkohle-Länder fordern mehr Strukturhilfen, nämlich insgesamt 60 Milliarden Euro über 30 Jahre statt der bisher eingeplanten 1,5 Milliarden bis 2021. Ist das gerechtfertigt?
Jede Art von finanziellem Überbietungswettbewerb ist unangebracht. Es geht nicht darum, in den betroffenen Regionen goldene Trostpflaster zu verteilen, sondern vorausschauend in zukunftsfähige Projekte zu investieren.
Für neue Jobs in den Revieren hat die Kohlekommission Vorschläge gemacht, es sollen unter anderem Bundesbehörden, Bundeswehr-Standorte und Institute angesiedelt werden. Reicht das?
Das sind gute Ideen. Ein erfolgreicher Strukturwandel braucht Innovationen, Forschung und attraktive Rahmenbedingungen für neue Unternehmen. Der Energiemarkt bietet große ökonomische Chancen. Es gibt bereits zahlreiche Initiativen, die man weiterhin finanziell fördern sollte.
Besonders Nordrhein-Westfalen hat sich für Entschädigungen an die Kohlekonzerne starkgemacht, hier speziell für RWE. Was wäre da angemessen?
Nochmal: Statt über rückwärtsgewandte "Abwrackprämien" für Kohlekonzerne sollte man lieber über zukunftsweisende Investitionen in Energiewende-Unternehmen nachdenken. Das Festklammern an der Vergangenheit ist ökonomischer Unsinn.
Mit gezielter Förderung sollte man stattdessen innovativen Unternehmen den Markteintritt erleichtern. Verknüpft mit einem entschlossenen Kohleausstieg werden sich deren Geschäftsmodelle schnell und dauerhaft rechnen. Energiespeicherung und Digitalisierung – da spielt künftig die Musik.
DIW-Studie: Hambacher Forst und verbliebene Orte müssen nicht abgebaggert werden
Mit der Braunkohle-"Sicherheitsbereitschaft" sowie Maßnahmen zum Erreichen des Klimaziels von minus 40 Prozent – darunter die in der Kohlekommission diskutierte Stilllegung älterer Kraftwerksblöcke mit zusammen 3.600 Megawatt an den rheinischen Standorten Niederaußem und Neurath – reduziert sich laut einer aktuellen DIW-Studie der jährliche Bedarf für die RWE-Tagebaue Garzweiler II und Hambach ab 2022 um ungefähr 40 Millionen Tonnen.
Für einen Weiterbetrieb des Kohlereviers zwischen Köln und Aachen bis 2035 werden laut der Studie noch ungefähr 600 Millionen Tonnen Braunkohle benötigt. Selbst bei einem Verzicht auf Rodungen im Hambacher Wald und dem Erhalt der Dörfer Morschenich und Manheim seien noch 477 Millionen Tonnen Braunkohle im Tagebau Hambach förderbar. Im Tagebau Garzweiler II verbleiben beim Erhalt der Dörfer Keyenberg, Kuckum, Berverath, Oberwestrich und Unterwestrich sowie von Eggerather Hof und Roitzerhof noch 338 Millionen Tonnen.
Alles in allem sind damit zum Stichtag 1. Januar 2019 noch Kohlereserven von 815 Millionen Tonnen verfügbar. Dies überschreitet laut den DIW-Forschern die bis 2035 noch benötigten Mengen deutlich und zeigt, dass der Hambacher Forst wie auch die Dörfer erhalten bleiben können.