Wer die Geschichte kennt, schreibt Oscar Wilde, weiß: "Durch Ungehorsam ist der Fortschritt entstanden, durch Ungehorsam und durch Rebellion." Mit Oscar Wilde eine Buchrezension zu beginnen, ist abgedroschen, vielleicht sogar ein bisschen verzweifelt, und doch geht es nicht anders.

Denn genau darum, um Ungehorsam und Rebellion geht es in dem Band "Kipppunkte – Strategien im Ökosystem der Klimabewegung". Und außerdem: Verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Zitate, aber noch mehr als das inspirierende Bücher.

 

Auf 400 Seiten blicken Journalist:innen, Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen auf den Zustand der Welt, der Klimabewegung und des Kampfes für eine klimagerechte Zukunft. Obendrein haben 20 Gruppen der Klimagerechtigkeitsbewegung ihre Perspektive beigesteuert.

"Dieses Buch soll dazu beitragen, Diskussionsfäden zusammenzuführen und Lücken zu füllen", erklärt Herausgeber und Klimaaktivist Manuel Grebenjak in der Einleitung die Daseinsberechtigung seines Sammelbands. Es soll eine Basis für weiterführende Diskussionen und konstruktiven Streit über Strategien, Protestformen und vieles mehr bieten.

Dieser Aufgabe wird das Buch zweifelsohne gerecht. Es gibt kein umfassenderes und gleichzeitig aktuelleres Buch über die Klimabewegung im deutschsprachigen Raum, zumindest ist dem Rezensenten keines bekannt.

Nicht jedes Kapitel ist eine Erleuchtung. Manche wären vielleicht sogar entbehrlich, aber das ist falsch gedacht. Grebenjak will mit seinem Buch nicht nur einen Debattenbeitrag leisten, sondern eine Debattengrundlage schaffen.

Dass man da bei den meisten Kapiteln aufmerksam nickend weiterblättert und bei einigen das Buch kurz beiseitelegen muss, um sich die Schläfen zu massieren, ist also weniger der Qualität als dem selbstauferlegten Auftrag des Werkes geschuldet.

Klimagerechte Welt lässt sich nicht mit Appellen erkämpfen

Die große Stärke des Buches ist, dass die Stimmen einzelner Gruppen nicht verdruckst nebeneinander stehen. Sie werden eingerahmt von Analysen: Was ist gesellschaftliche Macht? Was sozialer Wandel? Welche Funktion erfüllt Militanz? Daraus ergibt sich ein schlüssiges und gewichtiges Gesamtwerk.

Mitgewirkt hat das Who's who der Klima-Bubble, von Andreas Malm über Payal Parekh bis Sara Schurmann.

Besonders hervorzuheben sind die Kapitel "Barrieren: Was verhindert einen klimagerechten Wandel?" von dem Politikwissenschaftler Ulrich Brand und der Aktivistin und Journalistin Lucia Steinwender und "Wie können soziale Bewegungen radikale Transformation bewirken?" von der Gruppe I.L.A. Kollektiv.

Weltweit hat die Repression gegen Klimaaktivist:innen in den letzten Jahren zugenommen. (Bild: Jan Mallander/Pixabay)

In diesen und weiteren Beiträgen wird der unbedingt notwendige Versuch unternommen, das Wirken der in Teilen politisch desorientiert oder sogar unpolitisch anmutenden Klimabewegung auf das Fundament einer Gesellschaftsanalyse zu stellen. Dabei muss nicht das Ziel sein, eine von allen geteilte und vermeintlich richtige Analyse zu entwickeln. Es wäre schon viel gewonnen, wenn es einen Minimalkonsens darüber gäbe, dass die Stammtisch-Parole vom "Politikversagen" nicht ausreicht, um den Status quo zu erklären.

Wer die Probleme der Gegenwart auf politisches Versagen schiebt, glaubt auch, dass sich mit gutgemeinten Appellen an Politik und Wirtschaft eine klimagerechte Welt erkämpfen lässt.

Nicht einzelne Personen und Unternehmen stehen der Transformation im Weg, sondern ein System und eine aus den Herrschaftsverhältnissen abgeleitete Kultur, die die Interessen weniger "als allgemeine, gesellschaftliche Interessen darstellen und ihre Vorstellung der Welt, von dem, was gut und schlecht ist, als allgemeingültig und alternativlos durchsetzen", wie das I.L.A. Kollektiv schreibt.

Wer dazu noch Fragen hat, dem sei das Buch ans Herz gelegt.

Man muss sich zu Beginn zwar etwas an die hippiesk anmutende Öko-Sprache gewöhnen, aber selbst diese ist, wenn auch etwas überstrapaziert, instruktiv. So durchläuft das "Bewegungs-Ökosystem", wie Grebenjak schreibt, verschiedene Jahreszeiten.

Gegenwärtig befinde sich die Bewegung im Winter, einer Zeit der Regeneration und Reflexion. Wie rund das Bild ist, sei mal dahingestellt, aber natürlich sind Bewegungen auch von internen Prozessen abhängig. Es ist zu einfach, alles auf Corona oder gestiegene Energiepreise zu schieben.

Nicht zuletzt die Enttäuschung des jüngeren, hoffnungsvolleren Flügels der Bewegung über den ausbleibenden Erfolg, trotz riesiger Demos 2019, trotz Klimaschutzgesetz, trotz Verfassungsgerichtsurteil, trotz grüner Regierungsbeteiligung, hat seinen Teil zum desolaten Zustand der Bewegung beigetragen.

Es fehlt eine Gesamtstrategie

Wer aus der Geschichte lernt, weiß um die Bedeutung von Rebellion, schreibt Oscar Wilde. In "Kipppunkte" wird daraus 150 Jahre später – und entliehen von der Journalistin Laura Meschede – "antikapitalistisch aus Erfahrung".

Auch durch die Beiträge der politisch moderaten Gruppen wie Fridays for Future, Letzte Generation oder Klimastreik Schweiz, flackert eine vorsichtige Systemkritik. Folgerichtig wird "Organizing" von diversen Gruppen als eine wichtige Strategie genannt.

Darunter wird die lokale Organisierung zum Beispiel in Stadtvierteln verstanden. Grundidee ist: Es gibt gemeinsame Ursachen und Lösungen für geteilte Probleme. Sei das die teure Miete, die hohen Heizkosten oder eben die Auswirkungen der Klimakrise.

 

Das Buch

Manuel Grebenjak (Hrsg.): Kipp­punkte. Strategien im Öko­system der Klima­bewegung. Unrast Verlag, Münster 2024. 396 Seiten, 22 Euro

Weil damit Alltagsprobleme politisiert werden, werden Bevölkerungsgruppen erreicht, die durch das traditionelle Klima-Mobilisierungs-Posting auf Instagram nicht erreicht werden.

Was der Klimabewegung außerdem fehle, so Manuel Grebenjak, sei eine Gesamtstrategie. Trotz der willkommenen Vielfalt an Ansätzen und verschiedenen Flügeln innerhalb der Bewegung brauche es eine übergreifende strategische Orientierung.

Dass diese bisher nicht existiere, zeige sich etwa darin, dass große Teile der Bewegung Unverständnis gegenüber den Strategien der Letzten Generation äußern. Die Humanökologin Tatjana Söding sagt dazu im Buch: "Disruptiver Widerstand ist dann sinnvoll, wenn er sich klar gegen kapitalistische Interessen wendet, Klassenstrukturen sichtbar macht und Ausbeutung anprangert. Den Protestaktionen der Letzten Generation fehlt dieser Wesenskern."

Dafür macht Söding aber nicht die Letzte Generation allein verantwortlich, sondern auch eine gesellschaftliche Linke, die sich schon zu Beginn gegen die Gruppe positioniert hat, statt Austausch und gemeinsame Strategien anzustreben.

Wenn Klima-Realist:innen und Klima-Doomer eins werden

Das Buch spricht wichtige und richtige, für Teile der Bewegung sicher auch schmerzhafte Punkte an. Die Klimabewegung hat in den letzten Jahren viel von ihrer gesellschaftlichen Bedeutung eingebüßt, aber es wird zweifellos zu neuen Trigger-Ereignissen kommen. Das nächste Extremwetterereignis ist nicht fern, lautet die traurige Gewissheit der Klimaforschung.

Darauf muss sich die Bewegung vorbereiten. Vielleicht kommt dann am Ende das Bild des "Bewegungs-Ökosystems" doch an seine Grenzen.

Während in einem Ökosystem jede Art einen intrinsischen Wert hat, gilt das beim Aktivismus nicht. Wenn eine Aktionsform immer wieder ins Leere läuft, sollte man sich über eine andere Gedanken machen.

Grebenjaks Buch kommt in einer Zeit, in der viele Menschen die Hoffnung bereits aufgegeben haben oder sich ins Private zurückziehen. Nur wenige Momente, nachdem klar war, dass Donald Trump die Wahl zum Präsidentenamt für sich entschieden hat, postete der britische Ökologe und Umweltjournalist George Monbiot auf X, ehemals Twitter: "Ich habe mich viele Jahre lang dagegen gesträubt, es zu sagen, weil es nicht hilft. Aber: We are so fucked."

Dieses Gefühl kennen viele und Jahr für Jahr werden es mehr. Man kann das mit zwei sich überschneidenden Kreisen verdeutlichen, einem einfachen Mengendiagramm. Der eine Kreis repräsentiert alle Klima-Realist:innen, also diejenigen, die sich evidenzbasiert und möglichst nüchtern mit dem Klimawandel auseinandersetzen. Der andere Kreis sind die Klima-Doomer, also Pessimist:innen, die "We are fucked"-Fraktion.

Jedes Jahr schieben sich diese Kreise etwas weiter übereinander, bis es irgendwann nur noch einen Kreis gibt. Aber so weit ist es noch nicht und so weit muss es auch nicht kommen. Daran erinnern Bücher wie dieses.

 

"Kipppunkte" nährt keine entrückte Hoffnung, sondern ist die Einladung an die Zivilgesellschaft, sich zu vernetzen und gemeinsam für eine emanzipierte Transformation von unten zu kämpfen. Um damit erfolgreich zu sein, braucht es laut dem Buch, angelehnt an das zapatistische Motto, eine Bewegung, die "fragend voranschreitet und aus der Geschichte lernt".

Oscar Wilde hätte es nicht besser sagen können.