Bisher erscheint der deutsche Kohleausstieg, auch wenn er bis 2038 dauern soll und das Votum der Kohlekommission teilweise ignoriert, als eine Art politischer Betriebsunfall, der sich mit diesen oder jenen Maßnahmen noch reparieren ließe.
Mit der Idee räumt eine am Donnerstag vorgestellte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) im Auftrag des Umweltverbandes BUND ziemlich eindeutig auf. Der Titel: "Klimaschutz statt Kohleschmutz".
Verglichen mit dem ursprünglichen Kohlekompromiss würde der aktuelle Gesetzentwurf zum Kohleausstieg zu Mehremissionen von insgesamt 134 Millionen Tonnen CO2 führen, beziffert DIW-Autorin Claudia Kemfert den Unterschied, der noch in keiner Ausarbeitung zum Ausstiegsgesetz derart groß gewesen ist.
"Der Kohleausstieg kommt zu spät und verschiebt die Reduzierung der Kapazitäten nach hinten", erläutert die Energieökonomin den Hauptgrund. Ein Kohleausstieg, der kompatibel zu den Pariser Klimabeschlüssen ist, muss nach ihren Erkenntnissen im Jahr 2030 abgeschlossen sein. "Alle anderen Lösungen führen dazu, dass wir die Klimaziele nicht werden erreichen können."
In Zahlen heißt das laut der Studie: Bleibt es bei diesem Kohleausstieg, dann verbraucht der Energiesektor zwei Drittel des gesamten deutschen CO2-Budgets bis 2040, nämlich 4.400 von 6.600 Millionen Tonnen CO2. Das Restbudget für die anderen Sektoren wäre entsprechend gering.
Ein Kohleausstieg nach Pariser Maßstab würde dagegen nur rund 2.450 Millionen Tonnen des CO2-Budgets beanspruchen – Deutschland würde einen Spielraum von 2.000 Millionen Tonnen gewinnen.
Für RWE und Bahn soll Datteln 4 stetig durchlaufen
Kemfert und die Mitautoren der Studie erklären die neuen Zahlen damit, dass sie dynamische Modelle verwendet haben, die auch "Sondereffekte" wie zum Beispiel die Verdrängung von Kraftwerken berücksichtigen.
Für das umstrittene neue Steinkohlekraftwerk Datteln 4 in Nordrhein-Westfalen kommt die DIW-Studie so zu bisher nicht bezifferten zusätzlichen CO2-Emissionen von 40 Millionen Tonnen bei einer angenommenen Laufzeit der Anlage bis 2033. Bisher hatten selbst Kritiker von Datteln 4 mit jährlichen Mehremissionen von "nur" zwei bis sechs Millionen Tonnen gerechnet.
Der nordrhein-westfälische BUND-Landeschef Dirk Jansen wie auch die DIW-Autoren begründen die enormen Mehremissionen durch Datteln 4 auch damit, dass die Steinkohle-Kraftwerke, die der Betreiber Uniper dafür abschalten will, 2019 nur zu 20 Prozent ausgelastet waren und entsprechend wenig emittiert haben.
Zudem würden mehr als 860 Megawatt von Datteln 4 durch feste Abnahmeverträge von RWE und der Deutschen Bahn stetig am Laufen gehalten – egal, ob die Sonne scheine oder der Wind wehe, sagt Jansen. Diese hohe Auslastung führe wiederum zu den angegebenen Verdrängungseffekten, vor allem gegenüber Gaskraftwerken, aber auch gegen die erneuerbaren Energien.
Eine Rolle bei den insgesamt hohen Mehremissionen spielt auch, dass die Studie den schleppenden Ausbau der Erneuerbaren entsprechend berücksichtigt. Um das Pariser Klimaziel zu erreichen, hält Claudia Kemfert für 2030 einen Anteil der Erneuerbaren von 75 Prozent am Strommarkt für erforderlich – statt der 65 Prozent aus dem Koalitionsvertrag. "Bleibt es beim heutigen Tempo, werden wir 2030 sogar nur einen Anteil von knapp 50 Prozent haben", sagt sie.
Für die 75 Prozent hält die DIW-Studie einen jährlichen Zubau von 9.800 Megawatt Photovoltaik und 5.900 Megawatt Windkraft für nötig – was sogar deutlich über den Forderungen der Branchenverbände liegt und eine Verdreifachung der derzeitigen Ausbaurate bedeutet.
Umweltschützer wollen Datteln-Eigner Finnland aufklären
Angesichts all dessen setzt BUND-Bundeschef Olaf Bandt nicht mehr auf eine Reparatur des Kohleausstiegsgesetzes. "Dieser Kohleausstieg ist ein bewusster Plan, um Klimaschutz in Deutschland zu verhindern", sagt er.
Bandt appelliert an den Bundestag, das Gesetz so nicht zu beschließen. Bund und Länder sollten stattdessen einen neuen Plan vorlegen, um den Kohleausstieg bis 2030 zu ermöglichen – oder wenigstens den Kohlekompromiss "eins zu eins umsetzen".
Im Fall von Datteln 4 hofft der BUND einerseits darauf, noch laufende juristische Auseinandersetzungen zu gewinnen. Gleichzeitig sollen Regierung und Öffentlichkeit in Finnland für das Problemkraftwerk sensibilisiert werden, erläutert Dirk Jansen. Denn "letztlich ist Datteln 4 ein finnisches Kraftwerk".
Der finnische Staat hält mit knapp 51 Prozent die Mehrheit an dem Energieversorger Fortum, der Jansen zufolge seinen Anteil am Datteln-4-Eigentümer Uniper derzeit auf 70 Prozent aufstockt. Dass Finnland sich mit Datteln 4 ein Problem einkaufe, sei dort noch gar nicht so bekannt, schilderte Jansen seine Eindrücke von einer kürzlichen Finnland-Reise.
Das erinnert ein wenig an das Engagement des schwedischen Staatskonzerns Vattenfall im deutschen Braunkohlesektor, das vor drei Jahren mit einem teuren Rückzug endete.
Redaktioneller Hinweis: Claudia Kemfert vom DIW ist Mitglied im Herausgeberrat von Klimareporter°.