
Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.
Klimareporter°: Herr Graßl, der schwarz-rote Koalitionsvertrag bringt für Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit zu wenig, kritisieren Umwelt- und Sozialverbände. Beim Auto gebe es sogar klimapolitische Rückschritte. Können Sie sich an eine Bundesregierung erinnern, die jemals genügend für den Klimaschutz getan hat?
Hartmur Graßl: Alle Koalitionsparteien haben in ihren Reihen noch immer viele Lobbyisten für fossile Brennstoffe – für Kohle überwiegend in der SPD, für Erdöl stärker in CDU und CSU. Da überrascht es mich überhaupt nicht, dass der Koalitionsvertrag beim Thema Klimaschutz – im Vergleich zur Ampelkoalition – lau daherkommt.
Glücklicherweise stimmt noch wenigstens die Grundrichtung hin zu den erneuerbaren Energien. Auch fehlt, anders als im Wahlkampf, das Wort Kernenergie. Würde beispielsweise die AfD mitreden dürfen, wäre Klimaschutz in Deutschland, wie durch die Trumpisten in den USA, beendet.
Hilfreich für den Klimaschutz in den kommenden vier Jahren wird die von den Grünen noch im alten Bundestag in letzter Minute erreichte Umschichtung im Bundeshaushalt sein. In der Opposition kann die Partei daher eine überdurchschnittlich starke Rolle spielen.
Ein Grundproblem bei Investitionen den Klimaschutz bleibt aber unabhängig von jeder Koalition: Heute erzielte Emissionsminderungen bei Treibhausgasen bremsen die globale Erwärmung erst in Jahrzehnten, wegen der Verzögerung durch die langsam reagierenden Ozeane und Eisschilde. Deshalb hat bisher keine Regierung genügend für den Klimaschutz getan.
Deshalb werden die Kinder oder Enkel der heutigen Politiker auf ihre Ahnen schimpfen, weil deren Klimaschutz zu lau war. Allein schon die unerträglichen Hitzewellen zwingen dann so viele Menschen zur Flucht, dass die Migration ein bisher nicht gekanntes Ausmaß erreicht. Fehlender oder zögerlicher Klimaschutz durch die heutige zu lasche Politik tötet dann noch viel mehr Menschen.
Der Klimawandel trifft Europa besonders stark. Daten des Copernicus-Klimadienstes der EU zeigen schon länger, dass kein Kontinent sich schneller erwärmt. Das vergangene Jahr bestätigte nun den Trend. 2024 war in Europa das heißeste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen. Überraschen Sie diese Daten noch – und sollten wir das Pariser 1,5-Grad-Ziel nicht endlich als gescheitert ansehen?
Europa ist ein besonders weit vom Äquator entfernt liegender Kontinent, sodass er sich bei mittlerer globaler Erwärmung etwas stärker als die anderen bewohnten Kontinente erwärmt. Denn Gebiete hoher geografischer Breiten erwärmten sich auch in der Klimageschichte immer schon stärker als alle anderen Regionen.
Zusätzlich ist die früher über Europa wegen der hohen Industrialisierung besonders starke Lufttrübung inzwischen geringer als zum Beispiel über großen Teilen Asiens. Dadurch hat die erfolgreiche europäische Luftreinhaltepolitik seit etwa 40 Jahren auch zu dieser jetzt beklagten Situation beigetragen. Wir hätten schon früher auch die Treibhausgase und nicht nur die Sonnenlicht zurückstreuenden und die Luft trübenden Aerosolteilchen reduzieren müssen.
Hinzu kommt das Mittelmeer, das sich wegen der geringeren Durchmischung rascher als alle größeren Meeresgebiete erwärmt, was in den letzten Jahrzehnten auch am steigenden Salzgehalt zu erkennen ist.
Ob das im Pariser Klimaabkommen angestrebte, aber nicht verpflichtende Ziel, die Erwärmung unter 1,5 Grad Celsius zu halten, schon bald überschritten wird, können wir erst in einigen Jahren feststellen. Ein einzelnes Jahr mit Überschreitung wie 2024 reicht angesichts der natürlichen Klimavariabilität von Jahr zu Jahr dafür nicht aus. Ich bitte um etwas Geduld.
Der Deutsche Wetterdienst modernisierte seine Klimatrend-Berechnungen und stellte auf das "lokale lineare Regressionsmodell" um, englisch abgekürzt LOESS. Statt 1,9 Grad im linearen Trend beträgt das Temperaturplus in Deutschland seit 1881 demnach bereits 2,5 Grad Celsius. Wie bewerten Sie den Methodenwechsel des DWD?
Der Deutsche Wetterdienst hat – wie für staatliche Dienste typisch – erst jetzt auf die sogenannte Loess-Glättung umgestellt, anders als manche Wissenschaftler und anders als Journalisten oder Kolumnisten, die klotzige Effekte besonders lieben.
Bei Loess wird eine geglättete Kurve nicht nur einmal für die gesamte Reihe der Datenpunkte angepasst, sondern auch für Teile einer solchen Reihe von Messungen. Diese Methode empfiehlt sich, wenn in einer Datenreihe besonders auffällige Änderungen im letzten Teil vorkommen oder wenn die Messgenauigkeit sich in den letzten Jahren stark verbessert hat.
Hätte man nicht die Temperatur in Mitteleuropa betrachtet, sondern die Temperatur der Meeresoberfläche südlich von Island im Atlantik, dann wäre wegen der sich kaum verändernden Werte eine Methodenumstellung nicht notwendig gewesen.
Der DWD hat spät, aber nicht zu spät auf die in jüngerer Zeit schneller steigende Temperatur in Deutschland reagiert. Der Wetterdienst hatte aber auch vorher die für den Temperaturanstieg verwendete Berechnungsmethode immer genannt.
Ich hoffe, dass der vom DWD jetzt berichtete besonders starke Temperaturanstieg der letzten Jahrzehnte in Deutschland einige Leute überzeugt, dass sie bei der nächsten Wahl den offensichtlich falsch liegenden Politikern mancher Parteien nicht mehr auf den Leim gehen.
In den USA fordern knapp 2.000 Forschende ein Ende des "massiven Angriffs auf die Wissenschaft" und schreiben von einem "Klima der Angst". Unter der Trump-Politik leidet besonders die Klimaforschung. Haben Sie schon Signale von Betroffenen aus den USA erreicht?
Der Wohlstand einer Nation hängt stark von neuem Wissen und daraus folgenden Dienstleistungen für alle ab. Beispiele sind der Gesundheitsdienst und die stark erleichterte und preiswerte weltweite Kommunikation.
Für dieses neue Wissen ist die Freiheit der Wissenschaft eine Grundvoraussetzung. Deshalb kommen neue Technologien überwiegend aus Ländern mit sich frei entfaltender Wissenschaft.
Beschränkt die jetzige Regierung in den USA die Freiheit der Wissenschaft, läutet sie daher unweigerlich den Niedergang des Landes ein. Als Europäer freut mich das überhaupt nicht, denn ein Teil meines Wohlbefindens hängt seit Jahrzehnten auch von dem der USA ab, weil dieses Land mindestens so viel neues Wissen geschaffen hat wie alle europäischen Länder zusammen.
Ich hoffe, dass dieser Trumpsche Irrsinn nur eine kurze Episode bleibt, wenn mehr Bildungseinrichtungen in den USA wie die Harvard-Universität dagegenhalten und mehr Wähler bei den Teilwahlen im November 2026 Trump die rote Karte zeigen.
Wir sollten nicht Wissenschaftler aus den USA abwerben, sondern ihnen gegebenenfalls Unterschlupf gewähren, aber auch die Wissenschaftsfeindlichkeit bei Teilen unserer Politiker durch die Wahl anderer mindern.
Ich selbst habe als seit zwei Jahrzehnten formal im Ruhestand lebender Wissenschaftler keine Klopfzeichen aus den USA vernommen, aber Universitäten und auch Forschungsinstitutionen wie die Max-Planck-Gesellschaft wohl.
Und was ist Ihre Überraschung der Woche?
Zunächst ist es keine Überraschung, sondern das 50-jährige Jubiläum des Max-Planck-Instituts für Meteorologie in Hamburg, an das ich ein Jahr nach der Gründung 1976 als junger Wissenschaftler gekommen war. Und an das ich 1988 als einer der Direktoren berufen wurde – nach Forschung und Lehre am Institut für Meereskunde der Uni Kiel von 1981 bis 1984 und dann als Ko-Leiter des Instituts für Physik am GKSS-Forschungszentrum in Geesthacht.
Die Max-Planck-Gesellschaft hatte nach zweijähriger Diskussion 1974 die Gründung des Instituts für Meteorologie beschlossen. Sie erkannte damit nicht nur die große Lücke bei der Erforschung des Klimas, sondern trug mit der Berufung des Gründungsdirektors Klaus Hasselmann auch wesentlich zum hohen Niveau der Klimaforschung in Deutschland bei.
Als Hasselmann im März 1995 im Beisein des Forschungsministers über die erste wissenschaftlich fundierte Entdeckung des "Fingerabdrucks" des Menschen im globalen Klima sprach, wollte ein Journalist von mir die Bedeutung des Befundes bewertet haben. Ich antwortete: Sobald ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen zum Klimaschutz existiert, bekommt Klaus Hasselmann dafür den Nobelpreis. Erst im Oktober 2021 war es so weit.
Nun aber zu einer schon ein paar Wochen zurückliegenden Überraschung im Klimasystem mit Bezug zum Institut: Die neue Institutsdirektorin Sarah Kang hat mit ihren Koautoren gezeigt, dass sich – anders als erwartet – die Walker-Zirkulation im tropischen Pazifik trotz der globalen Erwärmung verstärken kann, wenn der Temperaturunterschied an der Meeresoberfläche zwischen West- und Ostpazifik groß genug ist. Dies ist derzeit wegen der Abkühlung im Ostpazifik der Fall, sodass die mit El Niño zusammenhängenden Wetterextreme kräftig ausfallen.
Fragen: Jörg Staude