Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Professor Hartmut Graßl, Physiker und Meteorologe.
Klimareporter°: Herr Graßl, seit Wochen ziehen Tiefdruckgebiete über Deutschland hinweg und sorgen für Dauer-Starkregen und Hochwasser. Grund dafür ist eine sogenannte Fünf‑B-Wetterlage. Diese speziellen Tiefs nehmen meist feuchte Warmluft vom Mittelmeer auf und transportieren sie nach Norden. Zugleich verhindert ein kräftiges Hoch im Norden, dass die Tiefs weiterziehen können.
Sind solche gehäuften Fünf‑B-Lagen noch normal oder schon Ausdruck eines fortschreitenden Klimawandels?
Hartmut Grassl: Die Bezeichung für diese Wetterlagen geht auf eine sehr frühe Klassifikation der Zugbahnen von Tiefdruckgebieten zurück. Die auch heute noch unter Meteorologen als "Vb" bekannte Zugbahn – mit dem römische Zahlzeichen V für fünf – wurde von Wilhelm Jacob van Bebber schon im Jahr 1891 eingeführt.
Der Begriff der Fünf‑B-Wetterlage wird heute noch verwendet, weil die modernere Einteilung, zum Beispiel die Großwetterlagen nach Hess/Brezowsky, die Aktionszentren des Mittelmeerraumes nicht voll berücksichtigt.
Für meine Heimat, das Berchtesgadener Land, ist diese Wetterlage, bei der sich ein Tiefdruckgebiet vom Golf von Genua kommend über die Adria bewegt und dann nach Norden Richtung Polen weiterzieht, als Hochwasserwetterlage bekannt. 1954 hat eine solche Fünf‑B-Wetterlage um den 10. Juli zu einem Wintereinbruch im Hochsommer mit bis zu zwei Metern Neuschnee oberhalb von 1.200 Metern über Meereshöhe geführt, sodass das Vieh von den Almen vorübergehend ins Tal gebracht werden musste.
Die jetzt sehr gut vorhergesagte ähnliche Lage ist allerdings in meiner Heimat wesentlich weniger heftig, auch weil die absolute Feuchte der in größeren Höhen nach Norden geschaufelten Mittelmeerluft noch geringer und auch das Tiefdruckgebiet schwächer ausgeprägt ist.
Durch die weitaus bessere Wettervorhersage heutzutage sowie die bessere Information der Bevölkerung und die zusätzlichen Schutzbauten können auch bei gleichen Niederschlagsmengen die Schäden weitaus geringer gehalten werden.
Ob diese im Sommer bisher seltenen Wetterlagen wegen des anthropogenen Klimawandels zunehmen, ist aber noch nicht geklärt.
Im Kontrast zu Deutschland leiden die Menschen in einigen Ländern Asiens unter extremer Hitze – in Indiens Hauptstadt Neu-Delhi soll die Temperatur auf rekordhohe 52,3 Grad gestiegen sein, im Nachbarland Pakistan wurden 53 Grad gemessen. Der asiatische Kontinent ist laut Forschung vom Klimawandel besonders stark betroffen. Wo liegen die Gründe dafür?
Die mittlere globale Erwärmung betrifft die Landoberflächen generell stärker als die Meeresoberflächen, weil sich letztere durch die Mischung des Ozeanwassers nur "gedämpft" erwärmen. Asien als die größte Landmasse macht da keine Ausnahme.
Wie die Weltmeteorologieorganisation WMO berichtet, haben vor allem die Überschwemmungen und die Hitzewellen im Jahr 2023 Asien zum Kontinent mit der höchsten Zahl von Opfern und den höchsten wirtschaftlichen Schäden gemacht.
Kurz vor dem Einsetzen des asiatischen Monsuns Ende Mai in Südostasien und des indischen Monsuns Ende Mai, Anfang Juni treten in Südasien jährlich extreme Hitzewellen auf. Auch in diesem Jahr gab es wieder neue Hitzerekorde wie jetzt in Indien und Pakistan. Dabei sterben nicht nur viele arme Menschen, sondern auch die Wirtschaftsleistung eines Landes schrumpft dadurch stark.
Immer mehr Menschen, laut WMO bis zu zwei Milliarden, werden von unerträglicher Hitze betroffen sein, wenn die Klimaschutzpolitik der Staaten bei den bisher versprochenen, aber unzureichenden Minderungsmaßnahmen für Treibhausgasemissionen bleibt und damit das völkerrechtlich bindende Paris-Abkommen verfehlt.
Denn dann steigt die mittlere globale Erwärmung auf etwa 2,7 Grad, also eindeutig über die im Paris-Vertrag geforderten "wesentlich unter zwei Grad Celsius". Vielen Menschen ist nicht klar, dass bei einer solchen für viele moderat erscheinenden mittleren Erwärmung die frühere Anzahl der Tage mit Hitzewellen um das über Zehnfache steigt und die Zahl der ihre Heimat verlassenden Menschen in die Milliarden gehen wird.
Auch bei uns nehmen manche politischen Parteien diese Gefahr noch immer nicht ernst genug und setzen sich weiterhin etwa für Verbrennungsmotoren in Autos ein oder möchten ziemlich strikt niemanden aus den Gebieten mit drastischen Klimaänderungen aufnehmen.
Die Bundesregierung hat diese Woche Eckpunkte für eine "Carbon-Management-Strategie" und eine darauf aufbauende Änderung des CO2‑Speichergesetzes beschlossen. Vor allem schwer vermeidbares CO2 wie das aus der Zementherstellung soll künftig aufgefangen, an die Küste transportiert und dann vorrangig in alten Gaslagerstätten unter dem Meer eingelagert werden.
Ohne die CCS-Technologie kann Deutschland seine Klimaziele nicht erreichen, sagt Wirtschaftsminister Robert Habeck. Halten Sie diese CO2-Abscheidung und ‑Speicherung auch für alternativlos?
Mit den vom Bundeskabinett verabschiedeten Eckpunkten für die Carbon-Management-Strategie sollen die in einem Industrieland unvermeidlichen CO2-Emissionen – etwa bei der Zementherstellung, in der Kalkindustrie, der Grundstoffchemie und der Abfallverbrennung – mit neuen Techniken schon am Entstehungsort eingefangen und anschließend langfristig gespeichert werden, damit sie überhaupt nicht mehr in die Atmosphäre gelangen. Denn sonst bleibt das völkerrechtlich bindende Ziel der Treibhausgasneutralität – meist sehr ungenau als Klimaneutralität bezeichnet – nicht erreichbar.
CO2-Abscheidung und ‑Speicherung sowie CO2-Abscheidung und -Nutzung, also CCS und CCU, werden damit künftig auch in Deutschland – wie schon in einigen anderen Industrieländern – erlaubt. Wirtschaftsminister Habeck spricht von einem wichtigen Tag für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie in Deutschland.
Die wichtigsten Maßnahmen dieser Eckpunkte für eine Carbon-Management-Strategie sind die Beseitigung bisheriger Hürden für Transport und Speicherung von CO2 sowie die Festlegung von Leitplanken für die Nutzung von CO2. Die Speicherung unter dem Meeresboden außerhalb von Meeresschutzgebieten wird bei nachgewiesener Standorteignung erlaubt. Die Speicherung an Land ist weiterhin nicht möglich, es sei denn, einzelne Bundesländer erlauben es auf ihrem Gebiet.
Es bleibt beim Kohleausstieg: Für Emissionen, die aus der Kohlenutzung in Kraft- und Heizwerken stammen, wird der Zugang zu CO2-Pipelines und CO2‑Speichern ausgeschlossen. CCS wie auch CCU muss im Einklang mit den Zielen zur Minderung der Treibhausemissionen stehen. Die Bundesregierung setzt weiter auf den beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien.
Die Anwendung von CCS und CCU bei gasförmigen Energieträgern oder Biomasse wird im Sinne eines technologieoffenen Übergangs zu einem klimaneutralen Stromsystem ermöglicht. Für CCS- und CCU-Anwendungen bei Kraftwerken, die mit fossilen Energieträgern betrieben werden, gibt es aber keine staatliche Förderung. Auch wird die Förderung für CCS und CCU auf schwer oder nicht vermeidbare Emissionen konzentriert.
Die beschlossenen Eckpunkte der Bundesregierung gehen jetzt in das parlamentarische Verfahren. Parallel dazu will die Bundesregierung eine umfassende Carbon-Management-Strategie ausarbeiten.
Viele umweltbesorgte Bürger bezweifeln die Langfristigkeit der Speicherung. Norwegen, das seit Langem eine Bepreisung von Kohlendioxid hat, speichert das Gas seit fast 30 Jahren in immer größeren Mengen unter der nördlichen Nordsee in ehemaligen Öl- und Erdgaslagerstätten. Das geschieht in Tiefen, bei denen Kohlendioxid ein überkritisches Gas ist. Das heißt, es hat dort die Tendenz, langfristig in den Poren des Gesteins zu bleiben. Dann ist – so hat es ein internationales Konsortium von Wissenschaftlern in einem EU-Projekt festgestellt – das Entweichen von CO2 in die Nordsee aus den früheren Bohrlöchern sehr gering.
Im Sinne des Klimaschutzes tendiert ja inzwischen die öffentliche Debatte in Richtung CO2-Entnahme aus der Atmosphäre, um das Paris-Abkommen nach einer Phase kurzfristigen Überschreitens der Temperaturgrenzwerte längerfristig doch noch in Übereinstimmung mit diesen Grenzwerten zu bringen. Daher wird CCS für viele zum Klimaschutznothelfer.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Die Überraschung war für mich der Start des Satelliten Earthcare am 28. Mai. Earthcare steht für "Earth Clouds, Aerosols and Radiation Explorer" und ist ein Erdbeobachtungssatellit der Europäischen Weltraumorganisation Esa und der japanischen Raumfahrtbehörde Jaxa.
Zur Überraschung wurde der Start dieses Satelliten für mich, weil ich persönlich als damaliger Vorsitzender des Earth Science Advisory Committee der Esa wesentlich an der Auswahl dieses Satelliten beteiligt war und schon fast nicht mehr an die Realisierung geglaubt hatte.
Der Satellit soll Aerosole und Wolken und deren Einfluss auf den Strahlungshaushalt der Erde untersuchen. Unsere Kenntnis über die dämpfende Wirkung der Aerosole für die globale Erwärmung und die Beeinflussung der Wolkeneigenschaften durch die Aerosole ist noch nicht ausreichend. So kurios es klingen mag, die globale Erwärmung wäre wahrscheinlich um ein Drittel höher, wenn es die dagegen arbeitende, also kühlende Luftverschmutzung durch die Schwebeteilchen – also die Aerosole – nicht gäbe.
Planung und Bau des Satelliten begannen schon 2009, gestartet wurde er nun 15 Jahre später mit einer Falcon‑9-Rakete der Firma Space X von der Vandenberg Space Force Base in Kalifornien. Die technologisch sehr fordernden zentralen Geräte, ein Lidar und ein Radar – letzteres der Beitrag aus Japan –, haben Jahre der Förderung neuester Technologie verschlungen.
Earthcare mit seinen rund zwei Tonnen Masse wird – wenn er gut funktioniert – der erste Erdbeobachtungssatellit sein, der weltweit gleichzeitig Vertikalprofile der Aerosol- und der Wolkeneigenschaften liefert. Er könnte die schon bestehende Stärke Europas bei der Erdbeobachtung aus dem Weltraum weiter erhöhen und die weltweiten Klimaschutzmaßnahmen wissenschaftlich noch besser absichern. Ich drücke die Daumen.
Fragen: Jörg Staude